Totenruhe
Entlassungsschein. Preul war entlassen worden, auf eigenes Risiko, wie die Urkunde drohend vermerkte. Preul als Insasse der Anstalt kam nicht vor, kein ärztlicher Bericht, keine Begründung über seine Einweisung oder seinen eventuell freiwilligen Eintritt.
Lindemann suchte krampfhaft nach dem kokstrinkenden Antiquar Wilhelm Loss, den Humdorf so glänzend beschrieben hatte. Keine Eintragung, der Mann war nie in Wunstorf.
Blieb nur noch Humdorf, Robert Humdorf war nach einem psychischen Zusammenbruch auch »Gast« der Einrichtung. Und tatsächlich, es gab eine Akte Humdorf. Ein diensthabender Arzt bescheinigte darin dem Neuzugang, körperlich und geistig im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Und dann kam es. »Grund des Aufenthaltes: Journalistische Studien. Einweisender Arzt:« Hier war ein dicker Strich vermerkt, versehen mit einem Pfeil zum unteren Teil der Seite. »Genehmigung der Dienstaufsichtsbehörde liegt vor.« Es folgte eine unleserliche Unterschrift und der Vermerk »Chefarzt«.
Lindemann überlegte. Die Akte ließ nur den Schluss zu, dass sich Humdorf freiwillig in der Anstalt aufgehalten hatte, vermutlich den armen Irren spielte, um die Verhaltenweise anderer armer Irrer zu studieren. Aber warum? Für eine Story? Das wäre doch eher die Aufgabe eines Nachwuchsschreibers, Humdorf war ein gestandener Mann und in seinem Beruf vermutlich eine Spitzenkraft. Und wenn er nur sein Interesse an Preul befriedigen wollte? Hier konnte er ihm bis auf Tuchfühlung nahe kommen. Hier musste er als »Leidensgefährte« kein Interesse am Schicksal des alten Mannes begründen. Und mit der Genehmigung irgendeiner Dienstaufsichtsbehörde ließen ihn die Ärzte vermutlich nach Gutdünken schalten und walten. Humdorf hatte nie erwähnt, über die Anstalt geschrieben zu haben. Auch über Preul hatte er wohl nichts veröffentlicht, er hätte es sonst ganz sicher dem Pastor oder ihm mitgeteilt. In der Akte Humdorf gab es dann nur noch ein Blatt, auf dem die Abreise mit Datum genannt war. Danach war Humdorf nur fünf Tage in der Anstalt geblieben.
Lindemann befragte die Archivleiterin nach dem Schicksal der Insassen. »Wer nicht entlassen wurde, kam nach Stadthagen. Die Ärzte wurden übrigens vorzeitig in Pension geschickt, wenn sie über 50 waren, oder auch nach Stadthagen versetzt. »Es waren nur zwei Ärzte unter 50«, ergänzte sie süffisant.
»Was ist mit den verstorbenen Insassen?«, wollte Lindemann wissen. Es war eine unterbewusste Eingebung, die er nicht begründen konnte. Vielleicht würde er einen bekannten Namen finden, über dessen Nachkommen man sich weiterhangeln konnte.
»Totenscheine finden Sie im Archiv des Standesamtes. Soll ich Sie dort avisieren?« Die Kollegin war sehr freundlich und Lindemann nahm die Unterstützung dankbar an. Schon eine halbe Stunde später saß er vor den Totenscheinen aus jenem Jahr, in dem die Anstalt geschlossen wurde. In der Mitte des Ordners ragte ein Papierstreifen aus den amtlichen Formularen. Mit einiger Kraftanstrengung wälzte er den vorderen Teil der Blätter beiseite und traute seinen Augen nicht. »Totenschein-Original Karl Preul entnommen für Kripo Hannover, Aktenzeichen 23918777.« Das Datum der Dokumenten-Entnahme war gerade zwei Tage alt.
20.
Ronnenberg ist ein kleines Städtchen im südwestlichen Umland der niedersächsischen Metropole Hannover. Ein Witzbold hatte den Ort einmal mit dem Satz charakterisiert, das Schönste an Ronnenberg sei die Straße nach Hannover. Sauerbier fand die Praxis des Arztes Dr. Reichwein schnell. Sie lag gegenüber der Gesamtschule in der Langen Reihe. Das übliche Messingschild mit Sprechstunden und dem Hinweis, dass man von allen Krankenkassen zugelassen sei, fehlte.
Offensichtlich praktizierte der Arzt nicht mehr.
Auf dem Klingelschild war sein Name in feiner Prägung verewigt. Dr. Reichwein öffnete persönlich, keine Sprechstundenhilfe war zu sehen. »Wer sind Sie? Pastor Sauerbier? Ja, ist es denn schon so weit? Letzte Beichte und letzte Ölung?«
»Nein«, lächelte Sauerbier verlegen, »ich bin evangelisch.«
»Dann habe ich also noch mal Glück gehabt. Komm rein, tritt ein, bring Glück herein. Sie wollen mir keine Religion verkaufen? Ich habe da nämlich so gar keinen Bedarf.« Sauerbier verneinte. Es gehe vielmehr um eine Ermittlung. »Die Kirche ermittelt also auch«, staunte der Arzt und wies Sauerbier einen Sessel zu. Sauerbier war verunsichert.
»Wieso? Wer ermittelt denn noch?« Der Arzt lachte. »Sie
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