Totenruhe
O’Connor wurde ausgepfiffen und ausgebuht. Als ich von meinem Stuhl stieg, verließ er den Raum.
Ich machte mich wieder an meinen Text, und in der Redaktion kehrte Ruhe ein - soweit man davon überhaupt je sprechen konnte.
Dann rief Max an. Ich verabredete mich mit ihm am selben Abend vor dem Ducane-Haus. Er hatte nichts dagegen, dass Lefebvre mitkam. »Bring O’Connor doch auch mit, wenn du magst.«
»Mal sehen«, sagte ich ausweichend. »Er ist gerade nicht da.« Ich fragte, ob es in dem Haus noch Strom gab, und als er
bejahte, vereinbarten wir, uns um acht dort zu treffen. »Ich muss noch einen Artikel fertig schreiben, und ich kann auch nicht lange bleiben - ich muss nach Hause zu meinem Vater.«
»Zu deinem Vater?«
»Ja. Er ist krank. Ich erkläre dir später alles.« Was eigentlich eine Lüge war, da ich es mir selbst nicht ganz erklären konnte.
Ich rief Lefebvre an, der sich bei mir bedankte und versprach, sich nach Möglichkeit für den Gefallen zu revanchieren. Obwohl ich mich am Telefon heiter gegeben hatte, hatte ich seltsamerweise das deutliche Gefühl, dass er meine wahre Stimmung trotzdem erraten hatte. Und das am Telefon. Beängstigend.
Ich nahm mir Lydias Notizen vor, rief den redseligsten von Griffin Baers Erben an und ließ mir von ihm ein paar Freunde von Baer nennen. Er verriet mir sogar den Namen einer Kneipe, in der Baer Stammgast gewesen war.
Mit wem reden alte Männer sonst noch?
Ich fragte, ob er Golf gespielt hatte, doch die Antwort war nein. Ich fragte, ob er sich die Haare von einem Friseur hatte schneiden lassen. Diesmal lautete die Antwort ja - und der Friseur war sogar auf Baers Beerdigung gekommen. Ich wartete, während der Enkel ein wenig in den Gelben Seiten herumsuchte und es schließlich schaffte, den Namen des Friseursalons zu finden.
Da fiel mir ein, dass es sinnvoll sein könnte, wenn ich ein paar Bilder aus O’Connors Sammlung mitnahm. Ich überlegte gerade, ob ich ihn suchen oder ihn einfach in Ruhe lassen und erst am nächsten Tag danach fragen sollte, als ich einen Anruf von Tante Mary bekam.
»Wie geht’s deinem Freund?«
»Meinem Freund?« Wusste jetzt schon ganz Las Piernas, dass ich mit Max Ducane beim Essen gewesen war?
»Dem, den du heute Mittag vorbeigeschickt hast, damit er nach Patrick sieht.«
Ein kaltes Grauen durchlief mich von den Schultern bis zu den Knien. Erste Frage: »Ist mit Dad alles in Ordnung?«
»Er schläft. Ihm geht’s gut. Der Besuch hat ihn gefreut. Er hat ihm sogar selbst die Tür aufgemacht.«
»Dad?«
»Ja. Patrick war eine Weile auf, weißt du - er ist ein bisschen im Haus herumgelaufen, wie man es ihm ja geraten hat -, und dabei ist er an die Tür gegangen.«
»Oh.«
»Als er mir erzählt hat, dass du das arrangiert hast, um mir ein bisschen Luft zu verschaffen, habe ich mich im ersten Moment schon gewundert, weil du ja nie ein Wort davon zu mir gesagt hast. Aber das soll jetzt keine Kritik sein. Das war sehr aufmerksam von dir, Irene, aber nicht notwendig. Immerhin konnte ich in der Zeit ein paar Lebensmittel einkaufen gehen …«
»Bist du dir sicher, dass mit Dad alles okay ist?«
»Ja, natürlich.«
»Äh … es haben zwei Freunde angeboten, mal einzuspringen. Wie hat dieser Mann denn ausgesehen?«
»Er war groß und hatte dunkle, leicht grau melierte Haare.«
»Eine graue Strähne?«
»Nein, eher wie Salz und Pfeffer.«
»Dann war er wohl von der Zeitung?«
»Nein, er hat keinen Anzug getragen. War eher lässig gekleidet. Aber das war wahrscheinlich wegen des Rasens.«
»Was war mit dem Rasen?«, fragte ich, mittlerweile völlig perplex.
»Er hat vor und hinter dem Haus den Rasen gemäht und die Kanten geschnitten. Da habe ich erst gemerkt, wie sehr ich Patricks Garten vernachlässigt habe.«
Vielleicht war es O’Malley, sinnierte ich. Den hätte Dad reingelassen. Aber warum hätte O’Malley Mary erzählen sollen, dass er ein Freund von mir sei, anstatt gleich zu sagen, dass er ein alter Schulfreund von Dad war?
»Patrick hast du jedenfalls nicht vernachlässigt«, sagte ich. »Das ist die Hauptsache.« Dann verbrachte ich die nächsten Minuten damit, ihr zu sagen, wie gern ich sie hatte und wie dankbar ich ihr war - was man eben macht, wenn jemand, der einem nahe steht, dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist.
»Du klingst bedrückt«, sagte sie und beendete damit meinen Redeschwall. »Patrick geht es gut und mir auch. Patrick hat den Besuch sehr genossen. Du musst dich bei
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