Totenruhe
als die Story selbst.
Ich las die Berichte von 1958 durch und versank in Erinnerungen daran, wie ich dieselben Mikrofilme 1978 durchgesehen und mit O’Connor zusammengearbeitet hatte.
Um zehn Uhr wollte der Archivar Feierabend machen, und ich beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Hailey war schon vor einiger Zeit gegangen.
Ich wollte noch einmal versuchen, mich wieder mit Lydia zu versöhnen. Sie war weg wie die meisten anderen. Die Zeitung war offenbar in Druck gegangen. Nur eine Hand voll Leute bevölkerte noch die Räume. Einer von ihnen war John
Walters. Er war gerade erst aus der Druckhalle zurückgekehrt, wo er die ersten Exemplare, die aus der Druckerpresse kamen, überprüft hatte. »Hast du einen Moment Zeit?«, fragte ich ihn.
»Um einen Weiberstreit zu schlichten? Auf keinen Fall.«
»Nachdem dich darum kein Mensch gebeten hat, brauchst du nicht gleich aufgrund der Vorstellung, dass sich zwei Frauen uneins sind, die Nase zu rümpfen.«
»Okay, wo liegt dann das Problem?«
Ich sah über die Schulter zu den vier oder fünf Leuten, die noch in der Redaktion waren und sich allesamt die größte Mühe gaben, Dinge zu tun, für deren Erledigung sie in Hörweite von uns bleiben mussten. »Können wir das auch in deinem Büro diskutieren?«
Ich sah ihm an, dass er müde war und keine Lust auf ein vertrauliches Gespräch hatte, von dem er immer noch annahm, dass es sich um den »Weiberstreit« drehen würde, doch er musterte mich kurz, stieß eine Art Schnauben aus und bedeutete mir, ihm in sein Büro zu folgen.
Seufzend ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken und sagte: »Wenn ich mich so spät am Abend hinsetze, muss ich in meinem Alter allmählich fürchten, dass ich nicht mehr in die Höhe komme.«
Schlagartig vergaß ich alles, was ich im Sinn gehabt hatte, da ich sofort begriff, dass ihn etwas belastete, dass er eine große Sorge hatte.
»Was ist los, Kelly?«, fragte er ungeduldig.
»Stimmt irgendwas nicht?«
»Ja, ich hocke an einem verregneten Abend immer noch hier, obwohl ich eigentlich längst nach Hause will. Du wolltest mich sprechen, schon vergessen?«
Ich weihte ihn in alles ein, was ich im Archiv recherchiert hatte, und erklärte ihm, dass ich mit Hailey an dem Thema arbeiten wolle.
»Kelly, du hast vorhin behauptet, dass es nicht um den Weiberstreit geht.«
»Na ja, nicht direkt.«
»Aber du willst, dass ich diese kleine Debütantin freistelle, damit sie dir hilft.«
»Ja, so oft wie möglich. Und ganz diskret.«
Ein weiteres Schnauben. »Falls ich dir mit der Frage nicht zu nahe trete: Was zum Teufel ist das Neue an dieser Neuigkeit?«
Nachdem ich ihn Stillschweigen hatte schwören lassen, was ihn beleidigte, sagte ich: »In vier oder fünf Wochen wird eine Frage ein für alle Mal beantwortet sein - nämlich die Frage, ob der Mann, der als Max Ducane bekannt ist, tatsächlich der verschollene Erbe ist.« Ich erzählte ihm von den machbaren DNA-Untersuchungen, erwähnte allerdings Warren Ducane mit keinem Wort. Nun hatte ich sein Interesse geweckt, und so fügte ich hinzu, dass sich noch weitere Fragen ergeben würden, falls Max tatsächlich das entführte Kind sein sollte. »Das bedeutet, dass das Kind, das Mitch Yeager angeblich im November 1957 adoptiert hat, im Januar 1958 noch bei seinen leiblichen Eltern gelebt hat. Mitch Yeager wird eine ganze Menge zu erklären haben. Der Express sollte sich darauf vorbereiten, erneut über die Ereignisse von 1958 und 1978 zu schreiben, falls nötig. Ach, da fällt mir ein - Yeagers Neffen in der Karibik könnten immer noch wegen Mordes angeklagt werden.«
»Es wäre keine doppelte Strafverfolgung, weil der erste Prozess ergebnislos geendet hat, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und jemand müsste gleich mal mit Lillian Linworth sprechen - und herauszufinden versuchen, warum sie sich dagegen wehrt. Man sollte doch eigentlich annehmen, dass sie ganz erpicht auf diesen Test ist.«
Ich lächelte. Jetzt hatte ich ihn, und das wussten wir beide.
Er rieb sich das Gesicht. »Verflucht noch mal, du bist vielleicht eine Nervensäge.«
»Das sagst du immer, wenn ich dich dazu bringe, deine Meinung über irgendetwas zu ändern.«
»Hmm. Am besten besprichst du das alles auch noch mit Mark Baker. Und Kelly, falls irgendeine Kleinigkeit hiervon auch nur entfernt mit der Polizei oder mit vergangenen Ermittlungen zu tun hat, dann schreibst du diesen Teil der Geschichte nicht selbst.«
»Natürlich nicht. Es gelten dieselben Regeln
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