Totenruhe
Toten zu legen oder Tote ohne Särge woanders zu begraben, hatte das Erdreich hier offenbar mit diesen Ausdünstungen durchtränkt.
Ethan führte uns an ein paar Gräbern vorbei, ehe er sich auf einmal verwirrt umsah.
Ohne seinen Ekel zu verhehlen, sagte Mitch: »Sie haben nie etwas in Maureens Sachen gefunden, oder?«
»Nicht direkt«, gestand Ethan.
»Du mieser …«, begann Ian wütend, doch Ethan hielt eine Hand in die Höhe.
»Irene hat es von Betty bekommen. Und Betty hat es aus Ihrem Schreibtisch im Farmhaus gestohlen. Sie wissen, was ich meine?«
Mitchs Augen wurden schmal. »Das Medaillon. Dieses Miststück. Ich habe mich jahrelang gefragt … aber das beweist doch keinen Furz, oder?«
»Oh doch, zusammen mit dem, was wir in Maureens Unterlagen gefunden haben. Deshalb mussten wir uns ja einen sicheren Ort dafür suchen.«
»Und wo ist es?«, fragte Mitch. »Wo haben Sie es versteckt?«
»Ich muss erst die richtige Gruft finden«, erklärte Ethan und sah sich erneut um. »Das hatte ich schon befürchtet - sie haben noch mehr aufgegraben. Ich muss den Grabstein von Alice Pelck finden.« Er buchstabierte den Nachnamen.
»Wer ist Alice Pelck?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihren Grabstein nur zur Orientierung benutzt. Es ist einer von den großen, mit einem Engel, der von oben herabsieht.« Wir ließen unsere Blicke über den Friedhof schweifen und sahen etwa fünfzig Engel. Ethan bahnte sich mit der Taschenlampe den Weg zum nächstgelegenen. »Nein, das ist sie nicht.«
»Nicht davonlaufen«, mahnte Mitch und befahl Eric, ihm seine Pistole zu geben und sich dicht bei Ethan und Ian zu halten. Mitch würde an meiner Seite bleiben. Das behagte mir nicht besonders - eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten die Brüder voneinander trennen.
»Sie haben den Bagger weggefahren, der hier gestanden hat, und jetzt finde ich das Grab von Alice nicht mehr. Weißt du noch, wo es war?«, sagte Ethan zu mir.
»Ich dachte, es wäre dort drüben«, erwiderte ich und zeigte auf ein Gräberfeld in der Nähe, auf dem massenhaft Gerätschaften und alte Bäume sowie mindestens zwei Dutzend steinerne Engel standen. Irgendwann in der Geschichte von Las Piernas mussten sie der letzte Schrei gewesen sein.
Er ließ den Strahl der Taschenlampe in weitem Bogen schweifen, leuchtete hier und da Grabsteine an und ging auf die Abteilung zu, auf die ich gezeigt hatte. Ian hatte Taschenlampe und Pistole in den Händen und begann, auf der Suche nach Alice Pelck einzelne Grabsteine anzuleuchten. Eric war zwar alles andere als hilflos, hatte nun aber keine Pistole und kein Licht mehr. Immer wieder sah er sich beklommen um und zuckte zusammen, wenn ein Windstoß die Schatten der Äste über den Gräbern in Bewegung setzte. Er verlangte, dass Ian ihm die Taschenlampe gab, doch Ian weigerte sich. »Onkel Mitch …«, jammerte Eric.
»Verdammt noch mal, Ian, gib ihm die Lampe. Du brauchst nicht nach den Gräbern zu schauen, Hauptsache, du behältst unseren kleinen Klugscheißer hier im Auge.« Kaum hörbar murmelte er: »Bescheuerte Vollidioten.« Er wartete, bis Ian ihm gehorchte.
Mit Mitch an meiner Seite entfernte ich mich allmählich immer weiter von den anderen, angeblich auf der Suche nach der lieben Alice. »Schauen Sie mal bei dem hier«, sagte ich immer wieder und ging zum nächsten Grab, während er sich zu einer Inschrift herabbeugte.
Nach und nach konnte ich ihn in einen Abschnitt mit gefährlicherem Boden locken, einer matschigen Stelle zwischen zwei offenen Gräbern. Ich roch das abgestandene Wasser, das sich am Boden von beiden angesammelt hatte.
Trotz anderslautender Anweisungen von Mitch befasste sich Ian intensiv mit der Suche nach Alice Pelcks Grab. Durch das Lesen der Inschriften auf den von Ethan angeleuchteten Grabsteinen abgelenkt, achtete er nicht besonders auf Ethan selbst. Eric schwenkte seine Taschenlampe nervös mal hierhin, mal dorthin, spähte in leere Gräber und wich regelmäßig angewidert zurück.
»Ich glaube, ich sehe es!«, rief ich, während ich näher an eines der offenen Gräber herantrat und Mitch den Blick auf dessen Grabstein verdeckte.
Ian drehte sich zu uns um. Mitch machte einen Schritt nach vorn, um die Inschrift auf dem Grabstein zu lesen, wobei er mich anherrschte, ihm aus dem Weg zu gehen. Eric richtete seine Taschenlampe auf uns, doch nun war Mitch zwischen mir und Eric. Erics Lichtstrahl fiel genau in dem Moment auf Mitch, als er sich über mich beugte und ich mich aufrichtete und
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