Totenschleuse
am Fenster stand und sie beobachtete?
»Wieso besuchen Sie mich eigentlich? Wollen Sie auch was von meiner Kindheit hören?«
»Wenn Sie mir davon etwas erzählen wollen. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil –«
»Haben Sie den Mörder von Markus gefasst?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Nein, aber das ist auch der Grund, nein, ein Grund, warum ich hier bin. Ich habe noch einige Fragen.«
»Dann fragen Sie doch!«
»Ich habe mich mit Markus’ Kollegen Henning Schlömer auf der ›Christian Molsen‹ unterhalten. Er sagte, sie hätten über Markus’ Veränderung nach einem Aufenthalt in Klaipëda gesprochen. Henning wollte wissen, wie es Ihnen geht und wo Sie sind. Er hat versucht, Sie anzurufen.«
»Ach, Henning. Er tut sich immer gerne wichtig. Ich hab mein Handy seit einigen Tagen nicht mehr angemacht. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt je wieder anmache.«
»Hat er Ihnen etwas über Markus’ Kontakte erzählt, über besondere Erlebnisse?«
»Ich sagte doch, dass er sich wichtigmacht. Nein, alles, was ich weiß, habe ich Ihnen gesagt, als Sie in Kiel bei mir waren.«
»Hat Markus Ihnen irgendwann von Klaipëda erzählt?«
»Von was?«
»Falls es Ihnen wieder einfällt, rufen Sie mich an.« Er gab ihr seine Karte, die innerhalb einer knappen Sekunde in ihrem Anorak verschwand.
»Der Arzt sagte mir, dass Sie Besuch von einer Freundin gehabt hätten.« Malbek sah sie abwartend an.
Sie schwieg eine Weile, wandte sich ab und wieder Malbek zu, dann sah sie zum Rinnsal im Bach. Plötzlich begannen Tränen aus ihren Augen zu laufen. Kein Schluchzen, kein einziger Ton kam aus ihrem Mund. Er widerstand dem Impuls, einen Arm tröstend um sie zu legen.
»Madamchen war das.« Sie schnäuzte sich die Nase.
»Madamchen?«
»Kennen Sie sie?«
»Nein«, sagte Malbek. Madamchen. Der Fährmann in Holtenau hatte den Namen erwähnt. Sie würde oft mit ihm fahren. Und er würde sie schon kennenlernen, wenn er zur Reederei wolle.
»Kommen Sie, wir gehen ein Stück den Bach entlang in Richtung Stadt«, sagte er. »Madamchen. Ist das ihr wirklicher Name?«
»Natürlich nicht. Ist ‘ne Klassenkameradin von mir. Wir haben sie immer so genannt. Sie sieht nämlich genau so aus. Sie hat sich dann irgendwann selbst so genannt. Ist das für Sie wichtig?«
»Wie ist ihr richtiger Name? Und wie sieht ein Madamchen aus?«
»Ihr richtiger Name ist Petra. Petra Lantau. Sie war immer etwas rundlich. Rundlich und gleichzeitig zierlich. Und elegant gekleidet. Nicht zu viel, nicht zu wenig. So wie ich nie war. Ich hab sie beneidet, weil es ihr nichts ausmachte. Dieses Rundliche, verstehen Sie? Wir haben uns auch über das Thema gestritten. Aber wir haben uns trotzdem immer gut verstanden. Immer. Sogar als …«
Sie rieb sich mit den Fingernägeln die Haut am Handgelenk und sah auf das kurz geschnittene Gras.
»Als das mit mir anfing. Und jetzt hat sie herausgefunden, wo ich bin. Und hat mich besucht. Sie ist meine beste Freundin. Die einzige. Die sagen, ich hätte Borderline.« Sie sah ihn an und wartete auf seine Reaktion.
Also nicht nur diese Essstörung.
»Was ist das genau? Ich meine, dieses Borderline ?«, fragte Malbek.
»Das weiß hier keiner!« Sie lachte auf und wurde wieder abrupt ernst. »Das Einzige, was ich weiß, ist … ich war auf der Grenze zwischen verschiedenen Krankheiten. Grenzgänger. Ich bin immer so … dazwischen. Das ist doch klar, dass man dann irgendwann eine Entscheidung will. Aber das versteht hier keiner so richtig. Verstehen Sie das?«
Er nickte.
»Hier.« Sie schob den linken Ärmel des Anoraks hoch. »Das haben Sie übersehen, als Sie bei mir waren. Ich ritze an mir rum, damit ich mich spüre. Wenn es wieder mal zu leer in mir ist. Okay?«
Der Unterarm sah aus, als ob sie öfter mal in Scherben gefallen wäre und es immer selbst notdürftig verbunden hätte. So war es ja auch.
»Ich hab gedacht, ich könnte damit leben.« Sie schob den Ärmel wieder herunter. »Womit müssen Sie leben?«
»Ich versuche, mit mir selbst klarzukommen«, antwortete Malbek spontan. »Das ist manchmal nicht einfach.«
»Sie haben so einen bitteren Zug um den Mund. Auch schon in Kiel. Ich meine, nicht nur heute.«
Die dunklen Jahre, die acht Jahre im Gefängnis, die sah man ihm eigentlich nicht an. So hatte es ein Kollege mal ausgedrückt.
»Ich habe jahrelang viel Schlechtes schlucken müssen«, sagte Malbek.
Sie sah ihn misstrauisch an. »Haben Sie sich das jetzt für mich ausgedacht?«
»Leider nicht«,
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