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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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zurückgegangen, um einen zweiten Blick auf diese Lichtung zu werfen, aber jetzt, wo er im Halbschlaf im Pool dahintrieb, während Leonard kraftvolle Schwimmzüge tat, um seine Brustmuskulatur zu stärken, überlegte Justin. Vielleicht gehörte das ja gar nicht zu Mullaveys Besitz – auch wenn der Mann damit geprahlt hatte, dass er die Meilen Land bis hin zum Fluss besaß. Vielleicht hatte Justin irgendwo auf dem Weg dorthin eine unsichtbare Grenze überschritten. Aber warum war er dann so einfach von Mullaveys Hinterhof aus zu diesem Feld gelangt, nur durch das Tor und den Weg durch die Bäume entlang?
    Er kämpfte gegen die Ernüchterung. Justin wollte glauben, dass es auch in der Geschäftswelt noch Menschen wie den Andrew Jackson Mullavey, den er im August kennengelernt hatte, gab, die so gütig waren, wie sie zu sein schienen. Den Mann, der die Idee, seine Kaffeepads mit einer Idee zu verkaufen, die die Arbeitslosigkeit lächerlich macht, einfach vom Tisch gefegt hatte. Der Mann, dessen Unternehmen allein im letzten Jahr sechsundzwanzig Millionen Dollar für wohltätige Projekte ausgegeben hatte.
    Justin wollte so gern glauben, dass es derartige Menschen wirklich gab. Aber er konnte es nicht, nicht mehr. Wohltätigkeit der Firma? Er sah es nun eher als PR-Masche oder als Balsam für das Bewusstsein der Vorstandsvorsitzenden, die einfach alles hatten.
    Wusste die hiesige Bevölkerung, dass der Philanthrop ein Migrantenarbeitslager auf seinem eigenen Grund und Boden unterhielt? Was wahrscheinlich nicht einmal illegal war, aber es passte auch nicht zu der Persönlichkeit, die sich Mullavey so mühsam aufgebaut hatte.
    Vielleicht taten sie es. Vielleicht wussten sie es alle. Und es war ihnen egal. Ohne Kaufkraft, ohne die Demografie der Medien, ohne eine hörenswerte kollektive Stimme waren diese Migranten praktisch unsichtbar. Statistiken.
    Aber waren sie das nicht eigentlich alle?
     
    Neunzig Minuten später kletterte Justin aus dem Pool und trocknete sich auf dem Weg nach oben in sein Zimmer ab.
    Er stellte sich vor das offene Fenster und ließ sich von der Brise umwehen. Mit geschlossenen Augen spürte er die flüchtige Liebkosung der Vorhänge, und dieser frühe Nachmittag war zärtlich. Wäre er zumindest gewesen, wenn April bei ihm gewesen wäre.
    Er konnte es gar nicht abwarten, endlich wieder nach Hause zu kommen.
    Justin wandte sich vom Fenster ab und entschloss sich zu packen, bevor er unter die Dusche ging. Er sammelte die wenigen Stücke ein, die im ganzen Zimmer verteilt herumlagen. Ein Kamm hier, ein Taschenbuch dort, an einem anderen Platz sein Adress- und Telefonbuch. Er setzte sich einen Augenblick auf die Bettkante – es war irgendwann während seiner Abwesenheit gemacht worden – und packte auch den ganzen Kleinkram ein, der auf dem Nachttisch herumlag.
    Er hielt erneut inne und sah die Vase an, die auf dem Nachttisch stand. Er hatte sie schon das ganze Wochenende bewundert. Sie war aus Porzellan und an der Kante und den zarten Griffen vergoldet; der feinste Pinsel eines unbekannten Künstlers hatte das sanfte Weiß mit grünen und rosefarbenen Strichen verziert. Etwas Derartiges, das wahrscheinlich auch noch sehr viel wert war – sie hatte auf jeden Fall einen sentimentalen, vielleicht aber auch einen hohen monetären Wert –, musste er einfach hochheben. Das war möglicherweise ein Überrest seiner Kindheit, er sah seine Mutter förmlich vor sich, die ihn warnte, das nicht anzufassen. Er war schon immer ein aufsässiger kleiner Rotzlöffel gewesen.
    Er hob sie hoch …
    Und ließ sie beinahe wieder fallen, als er sie drehte, um hineinzusehen. Die Vase war nicht leer.
    Justin stellte sie polternd wieder an ihren Platz, fast schon zu schnell, und er saß dort steif und starr in seiner feuchten Badehose, als habe man ihn dabei erwischt, wie er etwas stehlen wollte.
    Eine Unschuld, die ihm stets anhaften würde, ließ ihn denken: Ich habe das nicht gesehen, das ist nicht das, wonach es aussieht, das ist bloß ein Zweig.
    Er griff erneut nach der Vase, diesmal äußerst vorsichtig, und holte sie zu sich aufs Bett. Er drehte sie um, sodass das Objekt darin langsam auf die Bettdecke glitt, und als es landete, lag es viel näher an seinem Oberschenkel, als er beabsichtigt hatte. Das ließ sich leicht ändern. Er rutschte ein Stück beiseite.
    Es lag auf dem Bett, und seine winzigen Krallen bogen sich nach oben … Vogelkrallen, schimmernd und schwarz. Ein paar Federn waren mit weißem und rotem

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