Totenstätte
als Zeugin schien sie ihr Bestes zu geben. Andererseits hatte sie auch etwas Zerbrechliches an sich. Statt der Jurymitglieder schaute sie eher Havilland und Denton an, als spürte sie das Gewicht der Institutionen, die sie vertraten. Dabei konnte sie gar nicht wissen, wer sie waren. In der vergangenen Woche war sie noch nicht zur Anhörungerschienen, und als sich die Beteiligten zu Beginn der Sitzung vorgestellt hatten, war sie wie alle Zeugen im Nebenraum gewesen.
»Wie gut haben Sie Nazim Jamal gekannt, Dr. Levin?«, fragte Jenny.
Sie dachte einen Moment nach. »Nicht gut.«
»Wie war es im ersten Trimester? Hatten Sie da mehr mit ihm zu tun?«
Über Sarah Levins Gesicht glitt ein trauriger Schatten. Ihre Stimme war leiser, als sie schließlich antwortete. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«
»Sie hatten ein Verhältnis mit ihm, nicht wahr?«
Sarah Levin schaute zu Mr. Jamal hinüber. Seine Miene war gefasst und ausdruckslos.
»Ja, Nazim und ich hatten ein kurzes Verhältnis miteinander, wenn Sie es so nennen wollen … Die Uni hatte angefangen, wir waren zum ersten Mal von zu Hause weg …«
Jenny sah die Rechtsanwälte an. Khan schien das Geständnis zu irritieren.
»Wie lange ging das?«
»Eine Woche oder zwei … Es war nichts Ernstes. Sie wissen ja, wie das bei Studenten so ist.«
»Ja, das weiß ich. Aber hat Nazim damals nicht eine sehr religiöse Phase durchgemacht? Er kleidete sich traditionell und hatte sich einen Bart wachsen lassen, nicht wahr?«
»Ich wollte seiner Familie das alles damals nicht zumuten, deshalb habe ich es nie erwähnt«, sagte Sarah peinlich berührt. »Wir waren beide achtzehn. In dem Alter ist man sich nicht sicher, was man glauben soll. Man sucht nach seiner Identität.«
»Was ich eigentlich sagen wollte: Offenbar hatte Nazim keine Bedenken, mit Ihnen zu schlafen.«
»Die schien er nicht zu haben, nein.«
»Hat er mit Ihnen über seine religiösen Überzeugungen gesprochen?«
»Er hat nur gesagt, dass niemand etwas erfahren darf, weder seine Familie noch seine indopakistanischen Freunde. Es war alles total verboten. Und deshalb so aufregend, nehme ich an.«
»Wirkte er wie ein religiöser Fanatiker auf Sie?«
»Damals nicht. Er war religiös, ja, er hat fünf Mal am Tag gebetet – aber in jeder anderen Hinsicht war er ein ganz normaler junger Mann.«
»Wer hat die Beziehung beendet?«
»Er hat mich in den Weihnachtsferien nicht mehr angerufen. Es ist einfach irgendwie zu Ende gegangen.«
»Vielleicht wissen Sie, dass Nazim danach noch eine andere kurze Beziehung mit einer Studentin hatte, mit Dani James?«
Sarah Levin nickte. »Davon habe ich letzte Woche gehört. Damals wusste ich es nicht.«
»Sie glaubt, dass er sie mit Chlamydien angesteckt hat. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?«
Sarah Levin verkrampfte sich, ihre Schultern wirkten plötzlich steif. Offensichtlich eine spontane emotionale Reaktion. »Ist das von Bedeutung?«
»Möglicherweise. Ich habe Ihre Krankenakte gesehen, Dr. Levin.«
Sie blinzelte, sichtlich getroffen von der unerwarteten Enthüllung. »Ein paar Monate später hat man auch bei mir diese Infektion diagnostiziert, ja«, sagte sie mehr als verlegen. »Ob ich sie von Nazim hatte, weiß ich allerdings nicht.«
»Haben Sie es ihm gegenüber erwähnt?«
»Nein.«
»Waren Sie deswegen wütend auf ihn?«
»Nicht in dem Sinne, den Sie suggerieren.«
»Dr. Levin, hat die Polizei von Ihrer Beziehung zu Nazim gewusst?«
»Nein. Bis heute habe ich sie niemandem gegenüber erwähnt.«
»Sie können die Bedeutung dieser Frage einschätzen, oder? Das hier ist kein Strafprozess, und ich erhebe auch keinerlei Anklage gegen Sie. Trotzdem: Hätte die Polizei davon gewusst, hätte sie Sie sicher befragt, um Beweise für ihre Theorie zu finden, dass Nazim und Rafi ins Ausland gegangen sind.«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber das ist nicht der Fall.«
»Hat je irgendjemand von den Geheimdiensten mit Ihnen gesprochen?«
»Nein.«
Jenny lehnte sich zurück. Sie hatte das ungute Gefühl, dass noch irgendetwas fehlte, dass irgendeine Frage noch unbeantwortet geblieben war. Wäre sie Anwältin, könnte sie Sarah Levin ins Kreuzverhör nehmen und sich auf die unglaubwürdige Behauptung stürzen, sie fühle keinerlei Wut auf den jungen Mann, der ihr gesundheitlich derart geschadet hatte. Doch für einen Coroner wäre ein solches Verhalten unangemessen. Jenny würde sich dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen und mangelndes
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