Totenstätte
von einer jungen Frau mit Rucksack gab es keine Spur.
Jenny kämpfte gegen die Panik an, Anna Rose könnte ihr entwischt sein, und eilte zu den Fahrplänen zurück. Auf dem Weg entdeckte sie einen Mann in Overall, der mit einem Staubsauger aus einem leeren Bus stieg. Sie lief auf ihn zu und fischte ihre zerknitterte Visitenkarte aus der Tasche.
»Entschuldigen Sie …« Außer Atem reichte sie ihm die Karte. »Ich bin Coroner. Ich suche eine junge Frau, die vorungefähr einer halben Stunde hier gewesen sein muss. Kurze schwarze Haare. Rucksack.«
Die Reinigungskraft musterte die Karte misstrauisch. Der Mann aus der Karibik hatte schwere Lider und den müden Gesichtsausdruck einer Person, die sich damit abgefunden hat, ihr Leben lang einen freudlosen, schlecht bezahlten Job machen zu müssen.
»Haben Sie das Mädchen gesehen?«
Der Mann antwortete ausweichend. »Glaub nicht.«
»Sind in der letzten halben Stunde noch Busse von hier abgefahren?«
»Der Bus nach London um Viertel vor elf.«
Jenny schaute auf ihre Uhr: neun vor elf.
»War das der einzige?«
»Soviel ich weiß, ja.«
»Fährt er direkt nach London durch?«
Der Reinigungsmann zuckte mit den Achseln. »Bin noch nie mit ihm gefahren.«
Jenny lief zu ihrem Wagen zurück. Ihre eleganten Schuhe rutschten auf der dünnen Schneeschicht, ihre Seidenstrumpfhose war an den Füßen nass, und ihre Zehen schmerzten vor Kälte. Sobald sie hinter dem Steuer saß, drehte sie die Heizung auf und fuhr mit einem leichten Schlingern los. Knapp fünfzig Meter hinter ihr schaltete der Lexus die Scheinwerfer an und folgte ihr.
Die Hauptstraße, die aus der Stadt hinausführte, ging schnell in die Autobahn M32 über. Jenny fuhr mit achtzig Meilen auf der äußeren rechten Spur. Die Reifen hinterließen Abdrücke im unberührten Schnee. Was würde sie überhaupt tun, wenn sie den Bus einholte? Sie könnte ihm bis nach London folgen, und dann? Selbst wenn Anna Rose tatsächlich in dem Bus saß, gab es keinen Grund, warum sie sich auf ein Gespräch mit Jenny einlassen sollte. Und wer wussteschon, was sie in ihrem Rucksack hatte. Es wäre vernünftiger gewesen, die Polizei anzurufen. Wenn Anna Rose in sicherem Gewahrsam war, hätte sie eine Befragung einfordern können. Verweigerte man sie ihr, könnte sie mit einer Verfügung des Obersten Gerichtshofes ihr Recht durchsetzen. So kalt, nass und entsetzlich müde, wie Jenny war, war sie einen Moment lang versucht, genau das zu tun. Ihr Handy steckte in ihrer Handtasche. Innerhalb weniger Sekunden könnte sie mit Pironi sprechen.
Doch eine andere, überzeugendere Stimme riet ihr, der Versuchung nicht zu erliegen. Würde die Polizei Anna Rose stellen, bekäme Jenny nie die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Man würde sie kaltstellen und ihr mit Entlassung drohen, sollte sie Ärger machen. Ihr würde die ganze Übermacht eines Staates im Antiterrorkampf gegenüberstehen.
Sie trat aufs Gaspedal. Der Tacho pendelte sich bei neunzig ein.
Am Stadtrand nahm sie die Abzweigung Richtung Osten und fuhr in einem Bogen auf die M4. Die Autobahn war unbeleuchtet und wurde vom Dunkel verschluckt. Ihre Augen hatten Mühe, durch die schmierigen Streifen auf der Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Jedes entgegenkommende Licht blendete sie und ließ die Straße vor ihr für einen kurzen Augenblick verschwinden.
Nachdem sie in größter Anspannung gut fünfzehn Meilen zurückgelegt hatte, tauchten plötzlich die doppelten Schlusslichter eines Reisebusses in der Finsternis auf. Er fuhr mit einer konstanten Geschwindigkeit von siebzig Meilen auf der Innenspur. Unter seinen massiven Reifen spritzen ganze Schlammlawinen auf.
Jenny wechselte auf die äußere Spur, als sie auf der Höhe des Busses war, um die Personen im Innern zu betrachten. Doch alles, was sie hinter den beschlagenen Fenstern ausmachen konnte, waren die flackernden Bildschirme in den Rückenlehnen der Sitze.
Plötzlich wurde ihr Auto von gleißendem Licht durchflutet. Erschreckt schaute Jenny in den Rückspiegel. Ein paar Zentimeter hinter ihren Rücklichtern blendete ein größeres Gefährt bereits zum zweiten Mal auf. Blind schwenkte Jenny auf die Mittelspur. Während rechts ein Range Rover an ihr vorbeischoss, spritzte ihr der Bus eine volle Ladung Schlamm auf die Windschutzscheibe. Instinktiv trat sie auf die Bremse und riss den Wagen zur Seite. Hinter ihr hupte es, und wieder blendeten Schweinwerfer auf, sodass sie gezwungen war, ihren Wagen sofort nach links
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