Totenstätte
zurückzuziehen. Dass der Lexus sie überholte, nahm sie kaum wahr, weil nun das Heck von ihrem Golf nach rechts ausscherte. Für einen Moment rutschte sie seitlich über die Autobahn. Als sie die hintere Ecke des Busses streifte, riss sie ihr Lenkrad herum, drehte sich langsam um hundertachtzig Grad und kam endlich auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Ihr Wagen zeigte gegen die Fahrtrichtung. Ein großer Lastwagen donnerte vorbei und hupte laut und anhaltend, weil er ausweichen musste.
Erleichtert, noch am Leben zu sein, drehte Jenny den Zündschlüssel herum, startete den Motor und legte den ersten Gang ein. Die Vorderräder ließen Schnee aufspritzen, fanden dann Halt und ließen den Golf vorwärtsholpern. Auf der Innenspur schossen ein paar Wagen vorbei und hupten. Bevor die nächsten Schweinwerfer näher kommen würden, musste Jenny die Lücke nutzen. Sie trat das Gaspedal durch, riss den Wagen scharf nach links und knallte die Gänge rein, bis der Tacho sechzig, siebzig, achtzig Meilen zeigte.
Zitternd raste sie knapp zwei Kilometer über die dünne Schneedecke und erreichte schließlich den Lastwagen, der fast in sie hineingefahren wäre. Sie überholte und sah bald auch wieder die unverwechselbaren Rücklichter des Bussesvor sich. Er blinkte links und fuhr auf eine Tankstelle. Jenny zog über zwei Spuren nach außen und erwischte die Ausfahrt um Haaresbreite.
Die Straße führte bergan auf einen Hügel, auf dem Jenny dem Schild zum Bus- und Lastwagenparkplatz folgte. Der Bus stand in der hinteren rechten Ecke. Sie lenkte den Golf durch den Schnee, vorbei an reihenweise Lkws, die hier über Nacht parkten, und dachte darüber nach, dass sie möglicherweise gleich Anna Rose begegnen würde. Was, wenn die sich weigerte, mit ihr zu reden? Oder einfach wegrannte? Schmerzen wie heiße Nadelstiche schossen ihr durch Brustkorb und Arme.
Sie näherte sich dem Bus von der linken Seite. Als sie kaum noch dreißig Meter von ihm entfernt war, glitt die vordere Tür auf. Im selben Moment huschten zwei Gestalten aus dem Schatten: drahtige, athletische Männer in schwarzen paramilitärischen Kampfanzügen und entsprechenden Kappen. Als sie die Bustür erreichten, griffen sie in ihre Jacken und stürmten in das Innere. Jenny trat auf die Bremse und kam schlitternd zum Stehen. Hinter den beschlagenen Fensterscheiben konnte sie die hektischen, verschwommenen Bewegungen von Menschen beobachten. Gedämpfte Schreie und Stimmen drangen an ihr Ohr. Dann wurde eine schmale, nicht näher zu erkennende Person gewaltsam durch den Mittelgang gezogen.
Ein metallischer Schimmer erregte Jennys Aufmerksamkeit. Als sie nach links schaute, sah sie eine große, schlanke Silhouette zwischen den Anhängern zweier Sattelschlepper hervortreten. Er trug Jeans und eine Skijacke. Eine Baseballkappe, die tief in seine Stirn gezogen war, verdeckte sein Gesicht. Er hielt inne und schaute kurz zu ihr herüber.
Er war es. Der Amerikaner. Der Mann, der in die Leichenhalle gekommen war, weil er angeblich seine vermisste Stieftochter suchte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Bus. Er hob beide Hände und zielte, als die beiden Männer ihre Gefangene die Treppe herunterzerrten.
Aus einem Reflex heraus trat Jenny aufs Gas und fuhr auf ihn zu. Orangefarbenes Feuer blitzte ein Mal aus dem Lauf seiner Pistole auf, dann ein zweites Mal. Auch aus Richtung des Busses ertönten kurze Schüsse. Der Amerikaner strauchelte und streckte die Hand nach einem Anhänger aus. Jenny fuhr an ihm vorbei und bremste in einem Bogen.
Etwas weiter links von ihr stießen die zwei Männer eine kleine dunkelhaarige Frau auf den Rücksitz eines Range Rovers, sprangen selbst auf die Vordersitze und rasten durch die Hecke los, die den Busparkplatz von der dahinter liegenden Ausfahrt trennte.
Die Streifenwagen und Zivilfahrzeuge kamen zwei Minuten später. Kurz darauf tauchte auch ein Hubschrauber auf und erleuchtete mit seinen Suchscheinwerfern die Szenerie. Der Busparkplatz wurde abgeriegelt, Jenny zusammen mit den hysterischen Fahrgästen aus dem Bus und einer Handvoll verwirrter Lastwagenfahrer zusammengetrieben. Sie alle wurden durchsucht und mussten Handys, Kameras und anderes elektronisches Gerät abgeben. Dann führte man sie zur Raststätte. Jenny weigerte sich und wollte dem uniformierten Polizisten soeben erklären, dass sie ein Coroner Ihrer Majestät und in einem offiziellen Einsatz sei, als sie Kriminalinspektor Pironi mit Alison im Schlepptau auf sich
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