Totenstätte
weitervermittelt. Er hat noch studiert … Politik und Soziologie oder so etwas.«
»Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«
Pironi betrachtete seine gepflegten Hände. »Ich habe mich einverstanden erklärt, mich heute mit Ihnen zu treffen, weil Alison eine gute Freundin von mir ist. Wir haben vor fünfzehn Jahren auf derselben Wache gearbeitet. Sie hat in ihrem Leben ziemlich viel riskiert, und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um noch eins draufzusetzen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht Alison losschicken würden, um mit diesen Leuten zu sprechen.«
»Ich würde Alison nie etwas tun lassen, bei dem sie ein ungutes Gefühl hat.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Er sah ihr in die Augen. Offenbar traute er ihr nicht.
»Okay. Verstanden.«
»Gut.«
Er holte einen Zettel aus der Tasche und schob ihn unter die Untertasse.
»War nett, Sie kennenzulernen, Jenny.« Er stand auf.
»Noch etwas«, sagte sie. »Interessiert sich noch irgendjemand für den Fall?«
»Sie werden nicht lange in der Geschichte herumwühlen müssen, um das herauszufinden.«
Er eilte Richtung Tür.
Sie sah, wie er über die Straße lief und in einen Zivilstreifenwagen sprang, der auf der anderen Straßenseite parkte. Am Steuer saß ein junger Polizist. Jenny zog den zusammengefalteten Zettel unter der Untertasse hervor und faltete ihn auseinander. Auf dem Ausdruck stand der Name Anwar Ali, außerdem eine Adresse in Morfa, South Wales.
Es war schon später Nachmittag, als sie die dringendsten Vorgänge auf ihrem Schreibtisch abgearbeitet hatte. Zwischen den Papierbergen war auch Dr. Kerrs Obduktionsbericht zu den drei Afrikanern im Kühltransporter gewesen. Er hatte Farbe unter ihren Fingernägeln gefunden, was darauf hindeutete, dass sie, bevor sie der Kälte zum Opfer gefallen waren, sich zu befreien versucht hatten. Der Jüngste war ein etwa fünfzehnjähriger Junge, der nichts als ein Fußballshirt von Manchester United getragen hatte. Papiere oder Dokumente, die ihre Identifizierung ermöglichen würden, hatten sie nicht bei sich gehabt. Auch diese drei würden jetzt im Leichenhaus landen, bis die Polizei zu einem unbestimmten Zeitpunkt beschließen würde, die Ermittlungen einzustellen.
Als Alison wieder einmal in eins ihrer angespannten, geflüsterten Gespräche mit ihrem Mann vertieft war, nutzte Jenny die Gelegenheit und verließ das Büro. Ihre Assistentin sah sich in ihrer beruflichen Symbiose mit ihr immer noch als die Ermittlerin und betrachtete Jennys Versuche, selbst mit Zeugen zu sprechen, als Eindringen in ihren Zuständigkeitsbereich. Viele Coroner arbeiteten tatsächlich vom Schreibtisch aus und zogen es vor, ihre Assistenten loszuschicken, um Leute zu befragen und Aussagen aufzunehmen, doch außer falscher Prinzipienreiterei gab es keinen Grund, warum Jenny nicht selbst nach der Wahrheit suchen sollte. Jahrhundertealten Regeln zufolge war es die Pflicht eines Coroners, das Wer, Wann, Wo und Wie von Todesumständen herauszufinden, und Jenny hatte nie begriffen, wie das möglich sein sollte, ohne sich die eigenen Finger schmutzig zu machen.
Morfa war eine Siedlung aus den Sechzigerjahren und lag in einem Außenbezirk von Newport, dreißig Meilen nordwestlich von Bristol auf der Waliser Seite des Severn. Sie war ein verwahrloster Teil einer größtenteils in Vergessenheit geratenen Stadt und stammte aus einer Zeit, als die meisten walisischen Männer noch in den Kohlebergwerken und in der Stahlindustrie unterkamen. Die Siedlung aus identischen Betonklötzen in Fertigbauweise sollte die Arbeiter mit ihren Familien beherbergen. Jetzt wohnten darin die Arbeitslosen. Ganze Gruppen von kahl geschorenen Jungen und blassen, übergewichtigen Mädchen lungerten an den Ecken. Schrottreife Autos ohne Reifen waren auf Ziegelsteinen aufgebockt. Ein streunender Hund irrte über zugemülltes Brachland, das einst ein Park gewesen war. Morfa war kein Wohnviertel mehr, hier wurden Menschen lediglich verwahrt.
Zu den schon vorhandenen Problemen der Siedlung kam noch hinzu, dass sie mittlerweile ein Unterschlupf für Asylsuchende geworden war. Als Jenny durch das verwirrende Netz identischer Straßen fuhr, sah sie immer wieder in Gesichter aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika. In einer Passage versteckte sich hinter schweren Stahlläden ein indischer Imbiss. Gleich daneben befand sich ein mit Brettern zugenageltes Spirituosengeschäft, in dem es offensichtlich gebrannt hatte.
Sie hielt vor dem Haus im Raglan Way. Da es
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