Totenstätte
verhalten, aber ich kann Ihnen helfen. Wenn Sie wirklich auf den Grund dieser Scheiße vordringen wollen, brauchen Sie einen Mann wie mich.«
Die Straße wand sich sechs Meilen bergauf durch die schwarzen Wälder zwischen St. Arvans und Tintern, einem alten Dorf mit einer Abteiruine, in dem sie das schmale Sträßchen nehmen und auf den Hügel nach Melin Bach rauffahren würde. Seit jener Nacht im vergangenen Juni, als sie – mitten im Fall Danny Wills von akuten Angstzuständen geplagt – ihren Wagen auf den Waldparkplatz gelenkt hatte und beinahe einem verzweifelten Impuls nachgegeben hätte, graute ihr vor der Strecke. So spät am Abend gab es hier fast keinen Verkehr. Ein feuchter Film lag auf der Straße, und dieKurven, die sich stets als schärfer und länger entpuppten als zunächst angenommen, zwangen sie dazu, im Schneckentempo zu fahren. Die steile Abbruchkante forderte jährlich mehrere Menschenleben.
Sie schaltete das Radio an, um ihre Fantasie davon abzuhalten, Schatten in Geister zu verwandeln. Sie versuchte sich in sanfter klassischer Musik zu verlieren. Wie Dr. Allen es ihr geraten hatte, beschwor sie unter Zuhilfenahme sämtlicher Sinne eine ländliche Idylle aus Feldern und Wiesenblumen herauf. Doch je klarer das Bild wurde, umso schärfer wurde der Stachel ihrer Angst. Etwas Kaltes, Bedrohliches bemächtigte sich ihrer.
Geh weg, geh wieder weg , sagte sie sich und wollte sich in ihre Idylle zurückzwingen. Dann erklärte sie mit lauter Stimme: »Du bist gar nicht wirklich … Lass mich in Ruhe.« Ein Geräusch war zu hören, ein Schniefen, ein unterdrücktes Schluchzen einer verlassenen Person. Jennys Blick flog zum Beifahrersitz. Einen Moment lang sahen Mrs. Jamals große schwarze Augen sie verzweifelt an, dann verschwanden sie wieder. Jennys Herz klopfte. Sie zwang sich, tief einzuatmen, dann trat sie das Gaspedal so weit durch, wie sie es sich traute. Sie hatte schon alle möglichen Symptome erlebt, aber noch nie Dinge gesehen.
Sie lief vom Auto zum Haus und redete sich ein, dass ihre Einbildungskraft ihr etwas vorgespiegelt hatte. Die Augen waren in Wirklichkeit Lichtreflexe gewesen, das Gesicht ein flüchtiger Schatten. Es war nur natürlich, dass der Geist in der Dunkelheit Bilder konstruierte.
Sie schloss die Haustür ab und schob den Riegel vor.
Aggressiver Rap, so basslastig, dass er die Fenster zum Klirren brachte, wummerte aus Ross’ Zimmer. Sie rief einen Gruß hinauf, erhielt aber keine Antwort. Es war fast elf, zu spät zum Essen. Sie musste sich beruhigen. Was hätte sie füreinen Drink gegeben. Sie ging in ihr Arbeitszimmer in der Hoffnung, vielleicht etwas von ihrer Spannung aufs Papier übertragen zu können.
Sie schaltete das Licht an und sah, dass die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durcheinandergebracht worden waren und die Schublade, in der sich ihr Tagebuch befand, nicht ganz geschlossen war. Sie zerrte das Fach auf. Das Buch lag zwischen dem Chaos aus Briefumschlägen und Papier, der schwarze Einband war mit dem Gummiband verschlossen. Aber hatte sie es so liegen lassen, mit der Bindung nach links?
»Hallo. Du kommst spät.«
Sie fuhr herum. Ross stand in Kapuzenshirt und Schlabberhose in der Tür.
»Warst du an meinen Sachen?«
»Nein.«
»Sag mir die Wahrheit.«
»Es war nichts zu essen im Haus. Ich habe Geld gesucht, um in den Pub zu gehen und mir etwas zu holen.«
»Lüg mich nicht an.«
»Ich habe nichts angerührt.«
»Wühle nie wieder in meinem Schreibtisch herum. Das sind meine persönlichen Sachen.«
»Klar. Eine Menge Müll.« Er drehte sich um und ging die Treppe hoch.
Sie rannte hinter ihm her. »Ross, es tut mir leid …«
»Du bist hoffnungslos«, sagte er, eher mitleidig als wütend.
»Ross, bitte …«
Er verschwand in seinem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
15
U m fünf wachte sie auf, ausgelaugt von den unruhigen Träumen, die ihren leichten Schlaf gestört hatten. Ihr Körper war erschöpft, aber ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren und stürzte sich in die verrücktesten Spekulationen: Kompetenzgerangel zwischen Polizei und Regierung, geheime Absprachen, unterschlagene Beweise und im Hintergrund stets ein verhalten lächelnder McAvoy. Wie passte er ins Bild? War er vertrauenswürdig, oder benutzte er sie, wie Alison befürchtete? Zwei Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf: ein Engel und ein Dämon. Einer von beiden war McAvoy, da war sie sich sicher, aber sie konnte sich nicht entscheiden. Vielleicht war er
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