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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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auch Engel und Dämon zugleich.
    Der anfängliche Schock über Mrs. Jamals Tod hatte sich zu einem kontinuierlichen leichten Schmerz abgeschwächt. Schuldgefühle und Mitleid spielten hinein, aber auch die Scham, die Mrs. Jamal vor ihrem Sprung in den Tod empfunden haben musste. Jenny hatte Schwierigkeiten, die gut gekleidete Frau, die in ihrem Büro aufgetaucht war und mit stiller Würde im Gerichtssaal gesessen hatte, mit den verdrehten menschlichen Überresten auf dem Rasen in Zusammenhang zu bringen. Sie stand auf, zog einen Pullover über den Schlafanzug und ging nach unten, um Kaffee zu machen, den sie dann mit in ihr Arbeitszimmer nahm. Sie sah ihre Papiere und Notizen durch, die sie mit nach Hause genommen hatte. Irgendein Puzzleteil fehlte – etwas, das Mrs.Jamal ihr nicht erzählt und das zu ihrer Kurzschlussreaktion geführt hatte.
    Sie las die alten Aussagen mehrfach durch, dann dachte sie noch einmal über jedes einzelne Wort nach, das vor Gericht gefallen war. Abgesehen von der Tatsache, dass Mrs. Jamal so heftig auf Dani James’ Aussage reagiert hatte, hatte sich nichts Ungewöhnliches ereignet. Sie versuchte sich an die Unterhaltung in ihrer Wohnung zu erinnern und wünschte, sie hätte Notizen gemacht. Mrs. Jamal war entsetzt gewesen, als sie von Madogs Beobachtung erfahren hatte, aber sie hatte sowohl McAvoy als auch seinem Ermittlerfreund misstraut. Letztlich war Madogs Geschichte nichts als weiterer Schlamm in denselben trüben Gewässern gewesen, in denen sie bereits erfolglos herumfischten. Erst als Jenny sie gefragt hatte, ob es noch eine andere Frau gegeben habe, hatte sie anders reagiert. Sie hatte ihre Tränen unterdrückt und sich an die Stimme des Mädchens erinnert, als hätte es gestern angerufen. So alt wie Nazim sei sie gewesen, außerdem weiß, und sie habe sich gut ausgedrückt. Demnach konnte es Dani James nicht gewesen sein, denn Mrs. Jamal hätte mit Sicherheit ihren Manchester-Dialekt bemerkt. Trotz der Kürze hatte das Telefonat sie zutiefst erschüttert, und Jenny hatte mehr als bloßes Missfallen aus ihren Worten herausgehört. Sie suchte nach möglichen Erklärungen. Hatte es einen Skandal gegeben? War das Mädchen schwanger gewesen? Hatte Mrs. Jamal die beiden vielleicht gemeinsam in ihrer Wohnung erwischt? Hatte sie das Mädchen fortgejagt und sich derart mit ihrem Sohn überworfen, dass er ihr nie verziehen hatte? Und sollte es so gewesen sein, warum hatte sich das Mädchen dann nie gemeldet?
    Außer Dani James hatte nur eine einzige andere junge Frau eine offizielle Aussage gemacht: Sarah Levin, jetzt Dr. Levin von der Fakultät für Physik. Auch sie sollte noch vorGericht aussagen, weshalb Jenny vorher eigentlich keinen Kontakt mit ihr aufnehmen konnte. Doch instinktiv hatte sie das Gefühl, dass sie die Regeln auch in dieser Angelegenheit etwas weiter auslegen sollte. Außerdem brauchte sie dringend eine Spur, irgendetwas, um Licht in die Vergangenheit zu bringen.
    Unter Gemurre und Protest ließ sich Ross um sieben aus dem Bett zerren und gegen acht, immer noch ächzend, in der Nähe seines Colleges absetzen. Eigentlich hatte sich Jenny für ihren Ausbruch am Abend zuvor entschuldigen wollen, aber Ross hatte darauf bestanden, die vierzigminütige Fahrt zu verschlafen. Es war zu einem Muster geworden: Während der immer selteneren gemeinsamen Momente tat ihr Sohn alles, um nicht mit ihr kommunizieren zu müssen.
    Sarah Levins Privatadresse hatte Jenny durch eine Reihe von Telefonaten mit unwilligen Universitätsangestellten erfahren. Sie wohnte im ersten Stock eines großen viktorianischen Reihenhauses in der Nähe der Bristol Downs. Für eine junge Frau ein ziemlich teures Pflaster. Auf dem Schild neben der Klingel stand Spencer-Levin, über die Sprechanlage meldete sich eine Männerstimme.
    Jenny stellte sich vor und erklärte, sofort mit Dr. Levin sprechen zu müssen.
    »Die ist in der Dusche. Und um neun hat sie ein Seminar«, sagte er mit einer Arroganz, die man mit Spitzenanwälten oder Investmentbankern verbindet.
    Nach der schlechten Nacht war Jenny ziemlich gereizt. »Habe ich mich nicht verständlich ausgedrückt? Ich bin Coroner und führe eine offizielle Ermittlung durch.«
    Eine kurze Pause trat ein.
    »Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbefehl oder so etwas?«
    »Nein. Werden Sie mir also meine Bitte erfüllen, oder wollen Sie die ganze Angelegenheit verkomplizieren?«
    Sie hörte ihn fluchen. Selbst der Türsummer klang wütend.
    Wie ein

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