Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
ihren immer noch papiernen Terminkalender.
Richard griff sich ebenfalls ins Jackett, zog aber weder Terminplaner noch Zigarettenschachtel heraus, sondern einen Briefumschlag, dem er einen Brief entnahm. Er entfaltete ihn und reichte ihn mir über den Holztisch.
Zuerst fiel mir das kleine Quadrat ins Auge, das Gnomon, das Zeichen der Kuldeer. Es prangte rechts oben. Darunter stand: »Wartegg-Konferenz, Schloss Wartegg, Von Blaarer Weg, CH- 9404 Rorschach«, dabei eine Telefonnummer.
Der Brief lautete: »Sehr geehrter Herr Dr. Weber, im Namen des Lenkungskreises erlaube ich mir, Sie zur diesjährigen Konferenz vom 16 . – 18 . September nach Schloss Wartegg einzuladen. Falls Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit telefonisch zur Verfügung. Mit freundlichen Grüßen, Reto Federer, Generalsekretär.«
»Hä? Was ist das?«
»Die Wartegg-Konferenz, Lisa, ist eine Tagung, die einmal im Jahr abgehalten wird. Die erste dieser Art fand Anfang der sechziger Jahre in Rorschach statt, das liegt auf der schweizerischen Seite des Bodensees, damals in der Zehntscheuer. Seit das Schloss Wartegg renoviert ist, findet sie dort statt und heißt Wartegg-Konferenz.«
»Dann ist es wahr? Den Weltlenkungsausschuss, von dem Pio Janssen gesprochen hat, den gibt es wirklich?«
»Allerdings ist er nicht so geheim. Es gibt nur keine Erklärung am Schluss, deshalb ignorieren ihn die Medien weitgehend. Aber es stimmt, zu dieser Konferenz kommen hohe Staatsmänner, Wirtschaftsbosse und Wissenschaftler, um einen Gedankenaustausch über ein jeweils aktuelles weltpolitisches Thema zu pflegen. Während des Kalten Kriegs sollen dort sowjetische Führer mit amerikanischen Präsidenten zusammengekommen sein. Sicher ist, dass die Konferenz die Annäherung der USA an China auf den Weg gebracht hat. Man beschloss, dass ein Tischtennisspieler aus den USA die Tischtennis-Weltmeisterschaft 1971 nutzen sollte, um eine Freundschaft zu einem chinesischen Spieler aufzubauen. Ein Jahr später besuchte Nixon China. Daher der Begriff Pingpong-Diplomatie.«
Meisner lachte, obgleich sie es wusste. Aber vielleicht doch auch nicht so genau.
»Und … äh …« Ich wusste nicht einmal mehr, was ich fragen sollte. Doch: »Du … du hast also von Anfang an gewusst, dass das Gnomon ihr Zeichen ist!«
»Nein. Ich wusste es nicht, bis ich vor ein paar Tagen diesen Brief bekam. Ich habe mich aber nach unserer Schottlandreise bei einem Wappenkundler erkundigt. Nach seinen Angaben ist dieses Gnomon ein altes römisches Steinmetzzeichen, wie man es an der Porta Nigra in Trier findet. Zweites Jahrhundert nach Christus. Es ist mit der Christianisierung nach Schottland gekommen und im neunzehnten Jahrhundert zum Zeichen der Kuldeer geworden.«
»Und was haben diese Wartegger mit den Kuldeern zu tun?«
»Vermutlich besteht die Verbindung nur noch in der Symbolik. Tagesordnung und Gästeliste werden beispielsweise von einem zehnköpfigen Lenkungsausschuss und einem Generalsekretär ausgearbeitet.«
»Die Elfmänner! Die Hendeka! Scheiße!«
»Sicher auch ein gewollter Bezug zur Athener Demokratie.«
»Die ja so demokratisch gar nicht war«, bemerkte Meisner. »Sondern ziemlich elitär.«
»Und worum geht es dieses Jahr?«, fragte ich. »Im Brief steht ja nicht viel drin.«
»Ich habe gestern Reto Federer angerufen. Es soll um Katzenjacob und das Kalteneck-Experiment gehen. Denn …« Er zögerte. »Ich weiß es nicht sicher, aber ich vermute stark, dass es die Wartegg-Konferenz selbst war, die es angestoßen hat.«
»Richard, ich bitte dich!«, rief Meisner. »Es ist so schon kompliziert genug!«
»Rosenfeld und Groschenkamp müssen jedenfalls mal eingeladen gewesen sein«, stellte ich fest. »Sie besitzen beide die Nadel.«
»Ja, aber vor allem trägt die Datensammlung der Kalteneck-Experimente, die ich in Edinburgh in Finleys Aktenordner gesehen habe, das Gnomon.«
Ich konnte nicht einmal mehr »Was?« ausstoßen. Das also war die eigentliche Brisanz des Dokuments gewesen. Richard hatte sie mir verheimlicht, während er mich mit der Bestätigung zufrieden stellte, dass Katzenjacob auf der Liste stand.
»Und die haben jetzt dich eingeladen?«, konstatierte ich etwas wurmstichig in der Seele.
Er deutete ein Lächeln an. »Sie haben auch Derya und Finley eingeladen – und … dich.«
»Aber ich habe keinen solchen Brief bekommen!«, rief ich.
»Wann haben Sie denn zuletzt Ihre Post gesichtet?«, fragte Meisner.
Ich bedachte, dass ich seit Tagen die
Weitere Kostenlose Bücher