Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
behauptete, sie berate Politiker und die Polizei, prognostizierte für den Berlin-Besuch des Papstes einen Angriff durch den gefallenen Engel Luzifer. Dabei schien niemandem aufzufallen, dass Juri den Papst nicht in Berlin brauchte, um ihn mental anzugreifen. War auch nicht so wichtig, denn der Gute Tag drehte munter weiter.
»Kann nur sie noch Katzenjacob stoppen?«, fragte er in fetten Lettern. Daneben mein Gesicht, mein Name. »Lisa Nerz, die finanziell unabhängige schwäbische Szenelesbe. Sie wurde letztes Jahr niedergeschossen. Seitdem hat sie telekinetische Fähigkeiten.«
Verdammt. Darüber hatte ich mit niemandem gesprochen! Hörten sie jetzt schon meine Gedanken ab?
»Bei einem Test im Institut für Parapsychologie in Holzgerlingen hat die Frau, die lieber Männerkleider trägt, phänomenale Werte erzielt. Kann sie wirklich Lottozahlen beeinflussen? Der Gute Tag hat nachgefragt. Die Staatliche Toto-Lotto GmbH Baden-Württemberg bestätigt uns: Es gingen in den letzten Monaten auffällig oft Lotto-Gewinne aus fünf oder sechs Treffern nach Stuttgart.«
Lustig. Ich schaute gebannt zu, wie eine gewisse Lisa Nerz aus mir heraustrat und zu einer Figur der Fabulationswelt wurde.
»Die Hardcore-Emanze mit der Narbe im Gesicht war von Anfang an in den Fall Rosenfeld verwickelt. Sie fand die Leiche. Aus der Staatsanwaltschaft verlautet: Von ihr stammt das einzige Foto, das die Leiche zeigt, wie sie ursprünglich gelegen hat. Wegen dieses Fotos sitzt Juri Katzenjacob in U -Haft und wartet auf seine Mordanklage. Er beteuert seine Unschuld. Aber ist er wirklich unschuldig? Und wenn es stimmt, dass er übersinnliche Fähigkeiten besitzt, so ist Lisa Nerz womöglich die Einzige, die ihn stoppen kann. Bekommen wir bald den Kampf von Hexe gegen Hexer zu sehen?«
Das war nicht mehr so lustig.
Mein Facebook-Konto wurde überrollt von Freundschaftsanfragen, Beschimpfungen und religiösen Belehrungen. Über meinen Blog bekam ich in unfassbarer Zahl Bettel-Mails, in denen mir wildfremde Leute und kriminelle Abzocker aus Kenia mitleiderregende Notlagen schilderten, die ich mit meiner Begabung leicht lindern könne. Fremde Leute beschrieben mir ihre übersinnlichen Erfahrungen und baten um Rat oder stellten klar, dass sie die spirituelle Macht hätten, Juri zu stoppen. Ich koppelte meine öffentliche Existenz komplett von meiner privaten ab, schloss meinen Blog und meldete mich in Facebook unter einem Decknamen an, den ich hier nicht verrate.
56
»Ja, leben wir denn in einem Tollhaus?«, polterte Meisner. »Kann man das denn gar nicht stoppen! Sind denn alle irre geworden? Dich laden sie auch nicht mehr zu ihren Talkshows ein.«
Richard lächelte zufrieden. »Ich habe die Regeln verletzt. Jetzt gelte ich als unberechenbar.«
»Aber es war doch sehr eindrucksvoll.«
»Eben. Ich habe der Moderatorin die Schau gestohlen. Das geht gar nicht.«
»Waren die Würfel eigentlich manipuliert?«
»Nein«, sagte Richard. »Und eigentlich hatte ich gehofft, dass dies klar geworden wäre. Wie übrigens auch, dass dieser Strohberg gar nicht an Telekinese glaubt. Er benutzt Katzenjacob nur, um sich als Volkstribun zu etablieren.«
Wir saßen tief unten im Stuttgarter Kessel im Tauben Spitz und hielten Kriegsrat. Sally versorgte uns mit Maultaschen, Rostbraten und Salat und mehr oder weniger alkoholischen Getränken. Wenn ich Meisners knappe und etwas konspirative Einladung, »Kommen Sie heute Abend zum üblichen Treffpunkt, Richard ist auch da«, richtig deutete, dann hatte er das Treffen vorgeschlagen. Mit mir direkt kommunizierte er immer noch nicht wieder, jedenfalls nicht mit technischen Hilfsmitteln wie Telefon oder Computer. Wobei ich ihm zugutehielt, dass es eine reine Vorsichtsmaßnahme sein mochte. Schließlich wurde meine biologisch-soziologische Existenz derzeit lückenlos überwacht, um daraus Informationen für die Fabulationswelt zu ziehen.
Mein Wanzendetektor, von dem ich nie geglaubt hatte, dass ich ihn so oft ernsthaft brauchen würde, hatte im Tauben Spitz übrigens nicht ausgeschlagen. Darum berichtete ich, was ich in Berlin von Pio Janssen erfahren hatte. Bei der Darstellung meines Interviews mit Ingmar Neuner ließ ich die Aktivitäten des Poltergeistes weg.
»Das hilft uns nicht weiter«, sagte Meisner, »Neuner ist sicher klug genug, seine Aussage nicht vor der Polizei zu wiederholen. Und die Spur zum Auftraggeber endet an der Leiche eines Russen aus dem Mafiamilieu. Die russischen Behörden schreiben
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