Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
unvermittelt das Wort. »Es ist eine optische Täuschung.«
»Wie?«, fragte Richard erstaunt und drehte sich zu ihr um. »Wodurch kommt sie zustande?«
Auf einmal war die Trance gebrochen. Rosenfelds Geist war verweht, Janette und Kitty ärgerten sich, alle andern waren gottfroh, dass sie die schwitzigen Hände der Nachbarn loslassen konnten.
»Das kann ich Ihnen leider nicht erklären«, sagte die Fremdenführerin verlegen lächelnd. »Ein Physiker unter den Besuchern hat das mal erklärt. Da hatte auch plötzlich jemand den Eindruck, dass er sich bewegt. Es muss irgendwas mit den Rundbögen und dem Licht zu tun haben. Tut mir wirklich leid. Und wir sollten dann jetzt wohl …«
Diesmal folgten wir ihr. Kitty hatte eine Gruppe Interessierter im Gefolge und verteilte Karten ihrer Agentur. Ich hielt mich dicht neben Richard, der jeden, der sich mir geldgierig oder sonst wie neugierig näherte, mit seinem Blick wegscheuchte. Krautter stellte der Fremdenführerin Fragen zu den Gemälden, die zeigten, dass er schon mal hier gewesen war. Und Finley fing an haltlos zu lachen, als wir das groteske Schlafzimmer König Ludwigs betraten, das ganz und gar mit böser stachliger Gotik aus schwärzestem Holz ausgestattet war. Nebenan ein grüner Leibstuhl mit integrierter Spülung. Damals schon. Ja, ja. Und elektrische Klingeln, Zentralheizung und dampfbetriebene Aufzüge hatte der Knabe auch schon gehabt. Ludwigs berühmte Grotte war allerdings eher enttäuschend kurz und klein, aber täuschend echt. Fünf Meter Bärenhöhle. Nur nicht so tropfig. Sie soll ja dann den Ungetreuen des Königs Beweis genug gewesen sein, dass er den Verstand verloren hatte. Sein Tod war die Folge.
»Ein bisschen wie bei Neureichs«, bemerkte Meisner im Meistersingersaal. »Die Farben haben keinen Glanz.«
Eine halbe Stunde nach Eintritt waren wir durch und standen in der Cafeteria unterm Stahlgebälk des Thronsaals.
»Eine erstaunliche Ingenieursleistung«, bemerkte Richard. »Jede Zeit braucht Verrückte, die Geld für technische Innovationen ausgeben.«
»Und der Leuchter schwingt wirklich«, sagte Finley vergnügt.
»Mach Sachen!«, rief Meisner. »Also ich brauche jetzt einen Kaffee. Wie geht das jetzt hier? Ah!« Sie drückte auf den Knopf des Kaffeeautomaten.
Finley tat es ihr nach. »Man kann es nur schwer erkennen. Vermutlich sehen es nur einige Menschen mit guten Augen. Wenn man ganz still steht und über eine Stange am Leuchter einen Punkt an der Wand anpeilt, dann sieht man, dass der Leuchter sich hin und her bewegt.«
»Und Sie haben solche Adleraugen?«, fragte Meisner.
Wir stellten nach und nach Tassen unter den Automaten und trugen sie an der Kasse vorbei zu den Glastischen. Krautter saß bereits mit Nadja Locher an dem Tisch, von dem aus man einen Blick hinab zur Marienbrücke und zum Alpsee hatte.
»Ich habe ein Messgerät«, erklärte uns Finley, als wir saßen. Er zeigte uns sein schwarzes Stöckchen. An der Spitze befand sich eine bewegliche Klemme, am andern Ende ein Seilzug, um die Klemme zu öffnen. Außerdem legte er uns zwei daumennagelgroße Viertelkreise aus Pappe mit je einer kleinen, beweglich aufgehängten Nadel vor. »Sie funktionieren wie Seismografen. Ich klemme sie mit meinem Zauberstab am Ring des Kronleuchters fest. Die Nadel hängt im Lot. Wenn sich der Leuchter aus dem Lot bewegt, zeichnet die sehr weiche Bleistiftmine an der Nadelspitze einen Kreisausschnitt auf die Pappe. Eine Erfindung von mir. Dann muss man sich nicht stundenlang darüber streiten, wer was gesehen hat. Und seht ihr? Es gibt einen Ausschlag. Der Kreisbogen ist schätzungsweise zwei Zentimeter lang. Auf diesem hier ist er größer als auf dem andern. Demnach schwingt der Leuchter eher quer zum Schiff.«
»Er bewegt sich also wirklich und wahrhaftig«, stellte ich fest.
»Und zwar durch uns!«, rief Kitty. »Ich habe eine sehr starke Präsenz gespürt. Du doch auch, Janette? Da war eine große Energie in uns.«
»Nein, Kitty«, widersprach Finley, »ich fürchte, wir können gar nichts dafür. Ich gehe jede Wette ein, dass er auch schwingt, wenn niemand im Thronsaal ist. Vielleicht nicht immer, aber immer mal wieder. Meistens vermutlich.«
Und als Rosenfeld mit Katzenjacob hier war, hatte er auch geschwungen. Richard und Meisner dachten sicher dasselbe. Aber vor Kitty mussten wir das nicht besprechen.
»Es ist eben ein Ort der Energie«, klügelte sie. »Es gibt solche Orte. Vermutlich hat König Ludwig darum instinktiv
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