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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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gestanden haben, dass Ludwigs Leiche im Rücken zwei Einschusslöcher aufgewiesen habe.«
    »Oh, very interesting!«, rief Finley.
    »Pst!«, machte Kitty. »Wir sollten uns nun konzentrieren. Wir sollten, wann immer es geht, die Augen schließen.«
    »O ja, fein, konzentrieren wir uns. Darf ich Ihre Hand ergreifen, Kitty? Sie sehen ja nichts mit geschlossenen Augen.«
    Kitty bewies Kaltblütigkeit. Sie ließ sich von Finley nicht aus dem Konzept bringen. Richard nahm mich bei der Hand und ich packte die kalte Hand von Nadja Locher. So verbunden traten wir ein, was bei den anderen Gruppenmitgliedern für Getuschel sorgte. Aber in diesen Zeiten der Geisterbeschwörung auf Bergkuppen, in Steinkreisen oder auf Druidenplätzen war man mittlerweile an allerlei rituelles Verhalten gewöhnt. Zwei der Gruppenmitglieder trugen schwarze Armbinden.
    Wir betraten eine lichtarme Halle von freud- und glanzloser Pracht. Ich vermisste den Hauch von Weihrauch, der für mich zu katholischer Architektur gehörte. Unser Medium Janette schauderte. Und Finley lag falsch. Es war ein unheiliges Gebäude voller Spuk in den Gängen, Treppenhäusern und Räumen, die wir nicht betreten durften. Unser Weg führte uns zügig in den goldenen Thronsaal.
    »Augen auf!«, raunte ich Finley zu.
    Aber seine blauen Augen hinter den Brillengläsern wanderten bereits hinauf in die Kuppel, aus deren Zenit die Kette herauskam, an welcher der riesenhafte, zweistöckige Radleuchter hing.
    Während die Fremdenführerin uns in dem byzantinischen Kitsch die Wandgemälde erklärte und die Besucher »Schön!« flüsterten, erklärte Richard Finley leise die Statik: Doppel- T -Stahlträger, die Säulen nicht aus Marmor, sondern aus mit Stuck verkleideten Rohren, die Kuppel nicht aus Ziegeln gewölbt, sondern in einem Eisengerüst.
    »Um die einst 96 Kerzen anzuzünden«, sagte die Fremdenführerin fröstelig, »kann man den Leuchter herunterlassen. Er besteht aus vergoldetem Messing, ist einer byzantinischen Krone nachempfunden und wiegt eine Tonne.«
    »Sechsundneunzig«, rief Richard erfreut, »die Zahl des Vielecks, mit dem Archimedes den Näherungswert von Pi bestimmt hat, dem für alle Kreise dieser Welt gültigen Quotienten aus Umfang und Durchmesser. Bei Archimedes kam 3,142857 in Periode heraus. Die echte Zahl Pi ist natürlich keine periodische Zahl, sondern eine transzendente Zahl mit unendlich vielen Stellen hinterm Komma.«
    Roswita Kallweit kannte ihren Chef im diesem Zustand höherer mathematischer Leidenschaft offenbar noch nicht. Sie starrte ihn offenmäulig an. Auch Nadja war sich nicht sicher, was davon zu halten war. LO StA Krautter mochte Richards Art, sich bei Frauen interessant zu machen, nicht. Außerdem ärgerte er sich, weil ihm klar geworden war, dass er mit einer einzigen unbedacht abgerechneten Fahrt den Karrieresprung in die Bundesanwaltschaft verbaselt hatte. Das Einzige, was ihn tröstete, mochte sein, dass der Oberstaatsanwalt trotz seiner Rechenkünste auch keine Chance hatte, nicht nach der Pressekampagne gegen ihn.
    Meisner sagte: »Und was hilft uns das?«
    »Pi«, erklärte Richard, »ist eine Zahl, die man an allen bedeutenden Bauwerken bis zu den ägyptischen Pyramiden findet. Sie spiegelt das Mysterium der Verschwörung von Kreisumfang und Durchmesser wider.«
    Meisner gluckste.
    Kitty hatte vorübergehend vergessen, ihre Augen zu schließen, und schrak zusammen, als unser Medium Janette an ihrer Hand wankte und stöhnte. Sie besann sich jedoch schnell auf ihren Job. »Ist jemand hier?«
    »Ja«, antwortete Janette mit tiefer Stimme.
    Falscher Zeitpunkt. »Wenn Sie dann bitte auch kommen würden!«, rief die Fremdenführerin.
    »Das geht jetzt nicht«, sagte Kitty energisch und hob das Gaußmeter. »Wir spüren etwas. Es sind Kräfte. Es ist jemand hier, der Geist eines Toten. Wer bist du?«, wandte sie sich hastig an Janette.
    Die machte ihre Sache meisterhaft. »Ga… Gabriel. Ich bin …«
    »Keine Nachnamen!«, zischte ich.
    »Gabriel.«
    Die letzten unserer Gruppe, die zur Tür hinausgegangen waren, drehten sich um und kamen wieder herein in den goldblauen Saal mit seinem kleinteiligen Mosaikboden, in dem nie ein Thron gestanden hatte.
    »Bitte!«, rief die Fremdenführerin. »Die nächste Gruppe kommt gleich.«
    »Nein, wir sind die letzte«, widersprach ich.
    »Was willst du, Gabriel?«, rief nun Meisner rasch.
    Wir standen Hand in Hand im Halbkreis. Nur Finley schlenkerte seine Beine durch den Saal, die Augen auf den

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