Totenverse (German Edition)
Die Stimme aus dem Off erklärte, dass der Professor in Kairo der Apostasie für schuldig befunden worden war, weil er öffentlich die Meinung geäußert hatte, der Koran sei nicht das absolute Wort Allahs, sondern vielmehr ein historischer und literarischer Text, der interpretiert werden sollte wie jeder andere auch. Der Vorwurf der Apostasie hatte Abu Zaids Zwangsscheidung von seiner Frau zur Folge, und zwar mit der Begründung, dass er kein Muslim mehr sei und somit auch nicht mit einer Muslimin verheiratet sein dürfe. Schließlich war das Ehepaar in die Niederlande geflohen.
Leilas Stimme kommentierte weiter, aber Katya hörte nicht mehr zu. Sie versuchte, ihre eigenen Reaktionen zu sortieren. Obwohl sie Äußerungen, die den Islam oder den Koran infrage stellten, normalerweise gelassen hinnahm, hatten die Bemerkungen von diesem Mabus sie ebenso empört wie das aufgeblasene Getue des Scheichs. Und bei der schockierenden Erinnerung an den Fall Abu Zaid war ihr erneut die Galle übergelaufen, weil sie darin einen weiteren Beweis dafür sah, dass die Fundamentalisten ihren Krieg in den Gerichtssälen ebenso führten wie mit Bombenanschlägen und Entführungen. Eines musste sie Leila jedenfalls lassen: Die Frau verstand es zu provozieren. Und vielleicht hatte genau das sie das Leben gekostet.
»Tja, wir haben doch schon Prostituierte und öffentliche Demütigung. Da brauchen wir eigentlich nicht noch ein Motiv«, sagte Majdi und kratzte sich am Kopf.
»Nein, da haben Sie recht.« Osama saß auf der Tischkante in Majdis Labor, eine Hand an die Brust gelegt, die andere vor dem Mund. Er hatte sich gerade Leilas zwanzigminütige unvollendete Dokumentation Pilgerreise angeschaut und starrte jetzt auf den leeren Bildschirm, aber er wirkte in sich gekehrt, und Katya hatte das Gefühl, dass er in Gedanken woanders war.
»Wir brauchen nicht noch ein Motiv«, sagte Osama. »Was wir brauchen, ist ein gutes Motiv.«
Majdi drehte den Kopf und warf Osama einen Blick zu. »Ich fand die Sache mit den Prostituierten als Ermittlungsansatz ziemlich überzeugend.«
»Ja, aber das meiste Material mit Prostituierten wurde schon vor Monaten gedreht, und ich glaube nicht, dass der Mörder die Tat von langer Hand geplant hat.«
Eines zumindest hatte ihnen der Dokumentarfilm verraten: Es war Mabus, der die alten Koranschriften vor zwei Jahren in Kuwait ersteigert hatte. Leila zufolge hatte eine genaue Untersuchung der Texte ergeben, dass sie abgeändert worden waren. Mit digitaler Lesetechnik hatte Mabus bestimmen können, wie sie eigentlich aussehen müssten – anders ausgedrückt, er hatte ihnen ihre ursprüngliche Form zurückgegeben. Diese Seiten hatte Leila fotografiert – angeblich, um sie in dem Dokumentarfilm zu verwenden. Ein erster Vergleich hatte ergeben, dass die Texte auf der DVD dieselben waren, die Leila in ihrem Zimmer versteckt hatte.
Leila hatte die Schriften also für ihre Arbeit fotografiert. Noch immer gab es keinerlei Hinweis auf Wahhab Nabih, aber Katya vermutete, dass er ein reicher Mäzen war, der Mabus’ Arbeit finanziell förderte. In dem Film spielten die Texte keine große Rolle, sondern dienten hauptsächlich als Füllsel. An einer Stelle hielt Mabus eine der Originalschriften hoch und zeigte dem Zuschauer, wie genau der Wortlaut abgeändert worden war. Der Rest der Dokumentation bestand hauptsächlich aus Nachrichtenclips und Interviews, die die Spannungen zwischen religiösen Hardlinern und Mabus’ Arbeit belegten.
»Dann hat Leila die Fotos vermutlich versteckt, damit ihr Bruder sie nicht findet«, sagte Katya.
»Ja«, pflichtete Osama ihr bei. »Ich denke, er gehört zu denjenigen, die Textabweichungen bemerken und sich darüber aufregen würden. Andererseits scheint er seine Schwester nicht sonderlich unter Kontrolle gehabt zu haben. Falls er doch von dem Projekt wusste und ihr verboten hatte, daran zu arbeiten, hat er das Verbot wohl kaum durchgesetzt und wahrscheinlich nicht mal gemerkt, dass sie sich nicht an seine Regeln hielt.«
»Was ist mit diesem Mabus?«, fragte Majdi.
»Was soll mit ihm sein?«, konterte Osama. »Anscheinend haben die beiden zusammengearbeitet. Und der Qualität des Ausschnitts nach zu urteilen, den wir gerade gesehen haben, hat sie die Sache richtig ernst genommen. Wahrscheinlich hatte sie sogar vor, die Dokumentation irgendwo öffentlich zu zeigen.«
»Ja, das sieht alles professioneller aus als die Arbeiten davor«, bestätigte Katya.
»Wir müssen davon
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