Totenverse (German Edition)
sich eine Aussicht auf die Skyline mit ihren elegant modernen Bauten, Reklametafeln und einem mit Auto- und Industrieabgasen schwer verhangenen Himmel. Der Geruch, der durch die Fenster strömte, hatte etwas Beißendes, das Miriam an fauligen Reis denken ließ, an die Dinge, die einen über die Atemwege umbringen konnten. Ein paar Minuten später passierten sie einen Schiffsfriedhof, und der Gestank wurde schlimmer, war jetzt ölig wie ein Sumpf. Schiffswracks lagen übereinandergestapelt, geborsten und vermodert, im Vordergrund die Farbtupfen verwitterter Segel.
»Sie haben gesagt, dass Ihr Mann Sie vom Flughafen abgeholt hat«, sagte Nayir, »und dann gleich nach Ihrer Ankunft zu Hause verschwunden ist.«
»Stimmt.« Sie hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet.
»Finden Sie das nicht merkwürdig? Falls er Sie verlassen wollte, wäre es doch einfacher gewesen, Sie gar nicht erst abzuholen, oder?«
»Ich weiß nicht.« Sie versuchte, den Eindruck zu erwecken, als würde das Problem sie nicht sonderlich interessieren, und es schien zu klappen, weil er das Thema sofort fallen ließ. Aber sie spürte weiterhin seine Aufmerksamkeit, die ihre Wangen erwärmte wie ein Heizstrahler.
Während der Fahrt verlor sie komplett die Orientierung. Sie fuhren über lange, von Palmen und Ahornbäumen gesäumte Boulevards, wo der Verkehr so unerbittlich dahinströmte wie Blut, hin und wieder an Ampeln oder für Fußgänger hielt und von einem automatischen Impuls weitergetrieben wurde, als pumpte irgendwo ein schlagendes Herz. Sie bogen in Seitenstraßen, schnitten durch Kapillargefäße, um in die größeren Venen dahinter zu gelangen. Schließlich steuerte Nayir den Wagen in einer stillen und gesichtslosen Seitenstraße auf einen Parkplatz vor einem schlichten braunen Bürogebäude. Ein glänzendes Metallschild an der Fassade verkündete auf Englisch und Arabisch »SynchTech Industries«. Miriam betrachtete das Gebäude neugierig. Sie war noch nie in Erics Büro gewesen.
»Möchten Sie allein hineingehen?«, fragte Nayir.
Sie schaute sich mit einem Blick um, als wollte sie sagen: Sehen Sie hier sonst noch jemanden? , bremste sich aber mittendrin, weil ihr bewusst wurde, dass das unhöflich war. »Ja.«
»Es wäre vielleicht besser, wenn Sie jemand begleiten würde. Ein Mann.«
»Melden Sie sich freiwillig?«, fragte sie. Er sah sie verständnislos an. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie –«
»Ja«, sagte er. »Ich komme mal lieber mit.«
Als sie aus dem Auto stiegen, spürte sie, wie die moralische Verantwortung ihn förmlich umstrahlte. Sie kam sich vor wie ein kleines Mädchen und wusste nicht, ob sie dankbar sein sollte oder aufgebracht. Kurz vor dem Eingang blieb er abrupt stehen.
»Ich weiß schon«, sagte sie und hob die Hand. »Ich sollte meinen Neqab vorlegen.« Sie seufzte und brauchte einen Moment, um das Tuch vor dem Gesicht zu befestigen. »Tun Sie mir bloß einen Gefallen«, sagte sie.
»Nämlich?«
»Passen Sie auf, dass ich nicht über irgendwas stolpere.«
Mit besorgter Miene führte er sie in das Gebäude.
Sie traten durch eine große Drehtür, wo sich augenblicklich ihr Umhang verfing, und um ihn zu befreien, musste sie ihn ausziehen und noch einmal zurückgehen. Nachdem sie ihn nach Rissen abgesucht hatte, zog sie ihn wieder über, während Nayir, der ein paar Schritte entfernt stand, die Augen verzweifelt zur Decke gerichtet hielt und langsam errötete.
»Gucken Sie nicht so«, sagte sie. »Nicht jede Frau gewöhnt sich an so was.«
Der Boden war blitzsauber und roch stark nach Putzmittel. Am Ende der Lobby saß ein Wachmann hinter einem erhöhten Schreibtisch, zu dem drei Stufen hinaufführten, die der Mann erst herunterkommen musste, um ihnen eine Besucherliste zu reichen, in die Nayir dann seinen Namen eintrug. Dann nahm der Mann einen Metalldetektor zur Hand und strich damit über Nayirs Körper. Miriam nahm er gar nicht zur Kenntnis. Als er fertig war, sagte er: »Fünfter Stock«, und deutet vage nach links.
Nayir ging einen Flur hinunter, gefolgt von Miriam, die angestrengt durch ihren Neqab spähte. Sie kam sich vor wie ein Kind im Halloween-Kostüm, das blind dahintapst. Nayir ging zwei Meter vor ihr, und sosehr sie auch versuchte, ihn einzuholen, irgendwie hielt er den Abstand. Es war ihr immer arrogant erschienen, dass die Ehefrau hinterdrein trabte wie ein Küken, eine weitere öffentliche Demonstration weiblicher Minderwertigkeit. Jetzt jedoch akzeptierte sie mit verbittertem
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