Totenverse (German Edition)
anhob. »Er war einer der wenigen, die Zugang zu dem Raum mit unserer technischen Ausrüstung haben, und die Sachen sind etwa zeitgleich mit ihm verschwunden. Ich hab Walker eigentlich nie für unehrlich gehalten, aber Gier ist manchmal schwer zu erkennen.« Er setzte sich wieder, und Miriam legte sich ein Druck auf den Magen. Das Wort Gier weckte eine scheußliche Erinnerung. Genau das war nämlich einer ihrer Vorwürfe gewesen, wenn sie sich stritten – dass er nur wegen des Geldes hier war, dass ihm Geld wichtiger war als ihre Ehe. Aber damals hatte sie nur versucht, ihn irgendwie zu treffen.
Miriam merkte, dass sie wie erstarrt in ihrem Sessel saß und ihre Finger die Handgelenke schmerzhaft fest umklammert hielten. Sie wollte nur noch raus hier, aber wie sollte sie das Nayir vermitteln, der irgendwo ganz woanders war? Sie konnte höchstens versuchen, ihn am Fuß anzustoßen, damit Shaw nichts mitbekam. Zentimeter um Zentimeter schob sie den Fuß über den Boden, aber als sie fast am Ziel war, zog Nayir seinen Fuß weg und legte die Akte auf den Schreibtisch zurück.
»Möchten Sie den Diebstahl zur Anzeige bringen?«, fragte Nayir ruhig.
Shaw überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Wenn Walker wieder auftaucht, spreche ich mit ihm. Im Augenblick habe ich keine konkreten Beweise. Außerdem, ich dachte, es geht Ihnen um den Vermieter?«
Nayir sah ihn an. »Eine Frage noch, Mr Shaw. Kennen Sie eine Frau namens Leila Nawar?«
Shaw wirkte ehrlich perplex. »Nein«, sagte er langsam. »Nie gehört. Wieso?«
Nayir erhob sich, und Miriam stand mit ihm auf. Shaw tat es ihnen gleich. »Ich habe schon mit unseren Mitarbeitern über Walker gesprochen«, sagte er, »aber ich werde mich mal erkundigen, ob irgendwer eine Idee hat, wo er stecken könnte. Wenn Sie mir Ihre Nummer dalassen, ruf ich Sie an, falls ich was rausfinde.«
Auf dem Weg aus dem Gebäude hatte Miriam Mühe, Nayir im Blick zu behalten. Sie war zu abgelenkt. Warum hatte Eric ihr nicht erzählt, dass er sich so lange freigenommen hatte? Was hatte er den ganzen Monat über getrieben? Hatte er das Equipment gestohlen? Plötzlich fiel ihr das Dokument ein, das sie in seiner Aktenmappe gefunden hatte – das sich jetzt in ihrer Handtasche befand – und an seinen grausamen Scherz, er habe sich eine zweite Frau zugelegt. Der Gedanke war unerträglich. Jäh erinnerte sie sich an Mabus im Flugzeug und an seine Worte, die ihr nun unheilvoll durch den Kopf gellten: Wenn Sie an den Punkt kommen, wo Sie zurück in die Staaten wollen, dann werden Sie feststellen, dass Ihr Mann sich in das Land verliebt hat … Jetzt, wo sie wusste, dass Mabus Eric kannte, erfüllte sie dieser Satz mit Grauen.
27
Osama stand vor dem Fenster des Vernehmungsraums und dachte über die rätselhafte Leila Nawar nach. Eine Frau, die einen Neqab trug und ihr Gesicht via Bluetooth zeigte. Eine Frau, die den Mut hatte, Fremde auf der Straße zu filmen. Katyas Worte klangen überzeugend: Leila hatte die Auseinandersetzung gesucht. Irgendwie hatte das etwas schauerlich Beruhigendes.
Wie bei jeder Ermittlung stellte er sich auch hier die Frage: »Wo wäre das Opfer jetzt, wenn es noch lebte?« Er schloss die Augen und sah Leila in Bewegung, nicht ruhig auf der Rückbank eines Autos sitzend oder auf einem Balkon mit Blick über eine Straße. Sie war auf einem Bürgersteig, ging schnell und sprach in ihr Handy, einen Rucksack über der Schulter, lachte laut. Eine jener Fußgängerinnen, für die Umhang und Neqab eine nutzlose Ausstattung waren, weil sie allein durch ihre Präsenz die Energie auf der Straße bestimmten.
Ihr Exmann war aus einem anderen Holz geschnitzt. Bashir Tabbakh saß seelenruhig im Vernehmungszimmer, trank eine Tasse Tee und starrte die Wand an. Er war seit einer Stunde dort und machte einen leicht gelangweilten, aber schicksalsergebenen Eindruck.
Er hatte sich selbst gemeldet, nachdem sein Bruder Hakim ihn telefonisch erreicht und ihm erklärt hatte, warum er sich in Polizeigewahrsam befand. In einer rührenden Demonstration brüderlicher Liebe war Bashir vor dem Mittagsgebet ins Präsidium gekommen und hatte sich bei seinem Bruder für alle Unannehmlichkeiten entschuldigt. Osama vermutete, dass die Zusage, bei der Verlängerung seines abgelaufenen Arbeitsvisums behilflich zu sein, der geeignete Köder gewesen war.
Als Osama den Raum betrat, sah Bashir ihn an und nickte.
»Danke, dass Sie hergekommen sind, Herr Tabbakh«, sagte Osama und
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