Totenverse (German Edition)
Miriam je besessen hatte. Nayir rief nach seinem Onkel und schloss die Tür.
»Lebt Ihr Onkel allein hier?«, fragte sie nervös.
»Ja«, sagte er. »Aber keine Sorge, er spricht Englisch. Und er hatte auch früher schon weibliche Gäste. Er arbeitet für Archäologen und er hat oft Besuch aus vielen Ländern, auch von Frauen.« Dieses Eingeständnis schien ihn nicht zu freuen.
Sie bestaunte den schönen Salon durch eine doppelte Glastür. »Hat er denn nichts dagegen, wenn ich hier bei ihm bleibe?«
»Aber nein. Er würde niemals einen Gast abweisen. Und er freut sich bestimmt, Sie kennenzulernen.«
Sie hörte mit Erleichterung, dass Nayirs Onkel offenbar weniger strenggläubig war als Nayir. Wahrscheinlich hatte er sie deshalb hierhergebracht und nicht mit auf sein Boot genommen. Trotzdem war sie noch unsicher.
»Nayir?« Eine Stimme drang die Treppe herunter, gefolgt von zwei kleinen Füßen in glänzenden Lederslippern mit Goldquasten. Als Nächstes kam eine braune Hose in Sicht, dann ein elegantes Seidenhemd, das sich über einem üppigen Bauch spannte, und schließlich ein Kopf, der sich erfreut in ihre Richtung drehte.
Nayir sagte etwas auf Arabisch und stellte Miriam dann seinem Onkel Samir vor. Samir war beleibt und bedächtig, hatte kleine braune Äuglein und eine fleischige Nase. Er betrachtete Miriam mit gütiger Miene. Sein schwarzes lockiges Haar war sichtlich schütter, und das, was noch übrig war, hatte er über den Ohren hochgekämmt. Er hatte die Arme ausgebreitet und sprach noch mit seinem Neffen, begrüßte Miriam aber gleichzeitig in seinem Haus.
»Willkommen«, sagte er schließlich an sie gewandt. »Sie sind herzlich willkommen.«
»Vielen Dank.«
»Jetzt zeige ich Ihnen gleich Ihr Zimmer«, sagte er. »Und dann essen wir erst mal was zu Mittag.«
Nayir war in die Küche verschwunden. Miriam wollte Einwände erheben, kam sich dann aber töricht vor und folgte Samir eine Treppe hinauf. Wo sollte sie sonst hin? Samir führte sie zu einem Zimmer im ersten Stock. Es war klein und sauber und hübsch möbliert.
»Das ist sehr hübsch«, sagte sie und sah ihn an.
»Vielen Dank.« Samir lächelte. »Durch die Tür da ist ein Bad. Lassen Sie sich ruhig Zeit, falls Sie sich frisch machen wollen. Das Essen ist fertig, wenn Sie so weit sind.«
Sie dankte ihm erneut, sah zu, wie er ging, und sank dann wie betäubt aufs Bett.
30
Fast den ganzen Tag über war Nayir ein Vers aus der Sure Fussilat durch den Kopf gegangen. In seiner Kindheit hatte er große Teile des Korans auswendig gelernt, und häufig kamen sie ihm wieder in den Sinn, stiegen aus seiner Erinnerung auf wie jene zarten Pinselstriche aus Staub, die in der Wüste kaum sichtbar und verheißungsvoll schimmernd aufwirbeln. Es hatte den Vormittag über gedauert, bis sein Bewusstsein den vertrauten Klang von Ayat 39 aus den anderen Geräuschen in seinem Kopf herausgefiltert hatte: Und unter Seinen Zeichen ist, dass du die Erde leblos siehst, doch wenn Wir Wasser auf sie niedersenden, dann regt sie sich und schwillt. Er, Der sie belebte, wird sicher auch die Toten lebendig machen. Denn Er hat Macht über alle Dinge .
Nayir hätte Imam Hadi gern gefragt, was es bedeutete, dass Allah Tote lebendig machen konnte. Wie tot war tot? Ging es um körperlich tote Menschen? Oder nur um solche mit toten Seelen, deren Lebenskraft von bösen Taten erstickt worden war? Seine Gedanken wanderten zu Miriams Mann. Er hatte das Gefühl, dass Eric tot war, vielleicht auch körperlich.
Er entspannte sich gerade auf der Veranda seines Onkels, als der Anruf kam. Katyas Nummer erschien im Display, und er meldete sich sofort. Die Anspannung in ihrer Stimme war unüberhörbar, als sie sagte: »Ich muss mit dir reden.«
Nayir konnte gut an das Unsichtbare glauben, aber darauf zu vertrauen, dass Allah an Seinen Zeichen erkannt werden konnte, war sehr viel leichter, als eine Frau an ihren zu erkennen. Katya saß auf dem Beifahrersitz des Land Rovers und starrte stur geradeaus. Er schielte zu ihr hinüber, um den Ausdruck in ihren Augen zu lesen, und fragte sich, wie viel ihm entging, wenn sie verschleiert war. Er besaß keine Sicherheit darin, ihre Stimme zu analysieren, ihre Augen zu deuten oder die Geheimnisse ihrer Hände zu enträtseln, und was er jeweils vermutete, war nicht ohne große Peinlichkeiten zu verifizieren. Also fuhren sie schweigend dahin.
Als sein Blick auf den Verlobungsring an ihrem Finger fiel, wünschte er sofort, er hätte sich in
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