Totenverse (German Edition)
Tag vom plötzlichen Tod seines Freundes Qadhi erfahren.
»Die verraten einem gar nichts«, sagte er, nachdem er eine halbe Stunde mit der Polizei telefoniert hatte.
Nayir stand an der Küchentheke und zerdrückte mit einer Gabel Auberginen, um eines der zwei Kaltgerichte zuzubereiten, die er kannte. Es schien von Woche zu Woche heißer zu werden, kaum vorstellbar in einer Welt von ohnehin schon ungeheuerlichen Temperaturen. Nayirs ansonsten unverwüstlicher Appetit war zunehmend geschwunden, und inzwischen aß er nur etwas, wenn er sich schwach fühlte und Samir irgendwelche Bemerkungen über sein Aussehen machte.
»Vielleicht erfährst du ja morgen mehr.«
»Mmmmff. Können wir essen?«, fragte Samir ungeduldig.
»Noch nicht, ich muss erst beten.«
»Ach so.« Sein Onkel machte ein langes Gesicht. »Warte doch bis nach dem Essen, ja? Dann ist es sowieso überzeugender.«
»Die Gebetszeit ist jetzt«, sagte Nayir mit Blick auf die Uhr. Er ging aus dem Zimmer, ehe sein Onkel ihm einen weiteren Vortrag über die Gefahren zu großer Frömmigkeit halten konnte.
»Essen sollte für dich wie ein Gebet sein«, sagte Samir ernst, als Nayir endlich an den Tisch kam. »Du brauchst was auf die Rippen.«
Nayir setzte sich. Vor wenigen Monaten wäre er vielleicht noch bereit gewesen, einen kräftigen Appetit vorzutäuschen, um seinen Onkel zu beruhigen. Aber er hatte die Verstellung satt, und außerdem schwitzte er auf dem alten Vinylstuhl wie ein Tier. Er wusste nicht mehr, ob seine Lethargie auf die Hitze zurückzuführen war oder auf ein tieferes Unbehagen, das offenbar immer schlimmer wurde, wie Samir ganz richtig bemerkt hatte.
In der lastenden Stille nahm Samir ein Stück Brot von dem Stapel auf dem Tisch und aß. »Weißt du was?«, sagte er schließlich. »Vielleicht hättest du bessere Chancen als ich, etwas über Qadhis Tod rauszufinden. Du könntest mit jemandem in der Rechtsmedizin sprechen.«
Nayir war sich einigermaßen sicher, dass er sich nichts anmerken ließ, aber die Bemerkung hatte in ihm schlagartig die Erinnerung an Katya geweckt.
»Es ist doch erst einen Tag her«, erwiderte er. »Vielleicht braucht die Polizei noch ein bisschen Zeit für den ganzen Papierkram.«
Samir schnaubte. »Nach dem Tod deiner Eltern haben die sechs Monate gebraucht, um die Ursache für den Unfall zu klären.« Er betrachtete Nayir mitfühlend, da er wusste, wie schwierig dieses Thema immer für ihn war. Nayir wollte ihm sagen, er solle sich keine Gedanken machen. Die Unterhaltung beschwor einen deutlich jüngeren Schmerz herauf.
Er hatte seit acht Monaten nicht mehr mit Katya gesprochen. Sie hatte ihn noch eine Zeit lang etwa einmal die Woche angerufen, aber jede Nachricht, die sie hinterließ, schien ihn nur noch weiter in eine Verbindung zu drängen, die für ihn nicht zu rechtfertigen war – eine Beziehung zu einer Frau, mit der er weder verwandt noch verheiratet war. Die Ermittlungen im Mordfall Nouf ash-Shrawi waren abgeschlossen. Dabei war Katyas Verlobung in die Brüche gegangen. Und wie er aus Erfahrung wusste, stand die Freude, die er empfand, wenn er Katya persönlich sah, in einem furchtbaren Gegensatz zu den Ängsten, die ihn jedes Mal überschwemmten, wenn er mit ihr allein war. Ohne die Zustimmung ihres Vaters konnte Nayir sich nicht weiter mit ihr treffen, und die konnte er sich ein für alle Mal abschminken. Nayir würde niemals zugeben können, dass er und Katya sich allein getroffen hatten, aber es nicht zuzugeben war eine noch schlimmere Lüge. So oder so wäre er in den Augen des Vaters ein Schuft, sollte die Wahrheit herauskommen. Und inzwischen musste sie herausgekommen sein. Ihr Begleiter wusste, dass sie beide sich getroffen hatten. Er hatte es bestimmt ihrem Vater erzählt.
Aufgrund dessen, was zwischen ihm und Katya gewesen war, würde jeder anständige, fürsorgliche Vater Nayir auf der Stelle ablehnen. Das gehörte sich so, dessen war er sich sicher, und er war sich ebenso sicher, dass er die Zurückweisung nicht ertragen könnte. Damit wäre die Trennung endgültig, die sich Nayir in der vagen Hoffnung, dass sie nicht ewig währen würde, selbst auferlegt hatte.
Aber nach einigen Wochen hatte Katya nicht mehr angerufen. Wahrscheinlich war ihr seine Lage klar geworden. Immerhin kannte sie ihn, und vor allen Dingen kannte sie ihren Vater.
Oder vielleicht hatte sie einfach nicht mehr den Wunsch gehabt, ihn zu sehen.
»… fragst du also mal nach?« Samirs Worte rissen Nayir zurück
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