Totenverse (German Edition)
ohne Reue, weit weg von den Menschen und ihren Problemen. Kein Ruf zum Gebet durchbrach seine Gedanken, und er war endlich mal glücklich. Damals hatte er erkannt, dass er die Einsamkeit über alles liebte und er vielleicht gar nicht zu der Sorte Männer gehörte, die heiraten sollten. Doch als er zum Jachthafen zurücksegelte, wusste er, dass ein Leben allein ihn nie zufriedenstellen würde. Und die Worte des Propheten gingen ihm durch den Kopf: Verheiratet die Ledigen unter euch .
Ein Auto scherte vor ihm ein, und er hupte wütend, gab Gas, um ganz dicht aufzufahren. Dann wurde ihm bewusst, was er da tat, und er drosselte sein Tempo. Allah , betete er, führe mich fort von diesem Zorn. Ich weiß nicht, wo er herkommt. Ich weiß nicht, wie ich ihn heilen soll .
Doch eine andere Stimme in seinem Kopf versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Sie sagte: Du weißt ganz genau, wie du ihn heilen kannst. Der Zorn ist die Strafe für deine Kälte Katya gegenüber. Du hast ihr genau das Gleiche angetan, was Fatima dir angetan hat!
Das stimmte natürlich nicht. So einfach war die Sache nun doch nicht. Fatima und er waren von einem gemeinsamen Freund mit dem erklärten Ziel einer möglichen Heirat zusammengebracht worden. Dann stellte sich heraus, dass Fatima sich auch von anderen Männern hatte umwerben lassen und ihren zukünftigen Ehemann ausgewählt hatte, ohne Nayir gegenüber je offen zu sein. Aber Katya war anders. Bei ihnen war nie der Gedanke an Heirat aufgekommen; sie hatten gemeinsam ein Verbrechen aufgeklärt. Sie hatten zusammenarbeiten müssen , und die Nähe, die sie empfanden, war aus Unachtsamkeit und ihrer beider Sündhaftigkeit erwachsen.
Aber warum schmerzte die Trennung dann so sehr?
Weil ich eine Ehefrau haben möchte , sagte er sich.
Wie er es auch drehte und wendete, es änderte nichts an der Tatsache, dass das Zusammensein mit Katya ein Zina-Verbrechen war. Der Prophet Mohammed hatte gesagt: Niemand unter euch sollte einer Frau allein begegnen, so sie nicht von einem Verwandten begleitet wird . Klarer konnte ein Verbot ja wohl nicht sein. Und für den Fall, dass doch noch irgendwelche Zweifel blieben, hatte der Prophet außerdem erklärt: Wann immer ein Mann mit einer Frau allein ist, so ist Satan der Dritte im Bunde . Bei diesem Gedanken musste Nayir unwillkürlich an Katyas armen Begleiter Ahmad denken, der auf dem Riesenrad in der Gondel hinter ihnen gesessen hatte, als sie sich im Vergnügungspark zu ihrem einzigen echten Rendezvous getroffen hatten.
Auf seinem Boot angekommen, setzte er einen Topf Wasser auf und merkte dann, dass ihm gar nicht nach heißem Tee zumute war. Er ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, starrte dann aber doch nur dumpf die Wand an. Er hätte Samir nicht sagen sollen, dass er zur Rechtsmedizin gehen würde. Er hätte dort auch einfach nur anrufen können. Es gab keine Not, persönlich dort zu erscheinen.
Die letzten Wochen waren eine einzige ununterbrochene Abfolge von warmen, ruhelosen Nächten gewesen, schwül vor Sehnsucht. Die schlimmsten Qualen kamen, wenn Katya in seine Träume drang. Die Tage waren auch nicht besser, sie zogen sich endlos und leer dahin wie die Wüste. Und keiner wollte in die Wüste. Die Saudis waren vor dem Sommer in Deckung gegangen, hatten sich in ihre klimatisierten Räume geflüchtet, in ihre privaten Swimmingpools und die kühlen Einkaufszentren.
Ehe er ins Bett ging, verrichtete er die Istikhara, eine Reihe von bestimmten Gebeten vor dem Einschlafen, um eine Antwort im Traum zu erhalten. Er hatte das noch nie zuvor versucht, aber Imam Hadi hatte es ihm einmal empfohlen: »Manchmal ist die Suche nach den Antworten, die man benötigt, sehr schwer. Dann will Allah es einem nicht leicht machen.« Die Istikhara war kein von Angst diktiertes Nachtgebet, sondern eine reinigende, bewusstseinserweiternde Methode vor dem Bewusstseinsverlust, durch die man zu ungemein klaren Antworten gelangen konnte. Laut Imam Hadi hatte sie Niels Bohr bei der Entwicklung seines Atommodells und René Descartes bei der Formulierung seiner wissenschaftlichen Methode geholfen. Ein derart leistungsstarkes Werkzeug, so schätzte Nayir, müsste dann doch für die eher bescheidene Frage, ob er am nächsten Tag zum Büro der Rechtsmedizin gehen sollte, erst recht von Nutzen sein.
Kurz vor Tagesanbruch träumte er von einem riesigen Raum voller Süßigkeiten. Er bestaunte Teller mit Baklava, Zuckermandeln und türkischem Lokum. Je länger er sich umschaute, desto
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