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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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seine Niedergeschlagenheit wich, und er spürte, wie sein Körper neu atmete. Gelegentlich standen Tafeln mit frommen Sätzen am Straßenrand, und als er an einem Allah Akbar vorbeikam, sagte er laut: »Wahrhaftig, Gott ist groß!«
    Er hielt an, um sich mit dem Navigationssystem des Wagens vertraut zu machen. Als er die Koordinaten eintippte, die er sich bei Mrs Marx notiert hatte, dachte er, dass er viel zu schlecht ausgerüstet war, um sich allein in das Leere Viertel zu wagen. Die Koordinaten bezeichneten nicht den kleinen Ort Qaryat al-Fawa an der Landstraße 177, sondern einen Punkt draußen in den Sanddünen östlich davon. Die Amirs hatten ihn zwar mit ihrer Absage der Wüstenfahrt enttäuscht, nicht jedoch mit ihren Vorräten. Der Kofferraum war prall gefüllt, wenngleich er das alkoholfreie Bier aus der Kühlbox genommen und sie stattdessen mit Wasser gefüllt hatte. Dennoch, vor ihm lag die endlose sandige Ödnis der Rub al-Khali, in die sich nicht mal Beduinen allein hinauswagten.
    Je karger die Landschaft wurde, desto üppiger strömten die Gedanken in seinem Kopf. Er erinnerte sich an die erste Nacht, die er in den Dünen verbracht hatte. Da war er ungefähr fünf Jahre alt gewesen. Er und Samir hatten in einem Zelt geschlafen, das völlig von der Welt abgeschottet war. Sein Onkel hatte ihm eine Wasserflasche und ein Kissen gegeben; für eine Decke war es zu heiß. Die Wasserflasche war randvoll gewesen, und Nayir hatte sie beim Einschlafen fest umklammert, weil er meinte, er hätte die Aufgabe, sie zu beschützen. Im Laufe der Nacht war er alle paar Stunden aufgewacht, weil sein Hals ausgetrocknet war, und er hatte schuldbewusst aus der Flasche getrunken. Am nächsten Morgen hatte ihn kein Ruf zum Gebet geweckt, sondern sein Onkel, der sich aufsetzte und über die Hitze klagte. Die Sonne kletterte gerade über den Horizont, als Samir ihn nach draußen führte und ihm die zahllosen winzigen Spuren von Skorpionen und zehnbeinigen Wüstenspinnen zeigte, die von allen Seiten versucht hatten, ins Zelt zu dringen. Nayir hatte die Spuren ehrfürchtig betrachtet und zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass es in der Welt Gefahren gab.
     
    Seine Gedanken kehrten zu Katya zurück. Er fand es noch immer fast unglaublich, dass sie sich als verheiratete Frau ausgab, doch während sein Schock zu Anfang mit Freude durchsetzt gewesen war, weil sie ihn als vermeintlichen Ehemann genannt hatte, empfand er jetzt nur eine altbekannte Traurigkeit. Wahrscheinlich hatte Katya lügen müssen, um den Job zu bekommen. Es erinnerte ihn daran, dass er selbst bis vor einem Jahr stets einen Misyar bei sich gehabt hatte, einen unausgefüllten Trauschein. Falls er je allein mit einer Frau überrascht worden wäre, hätte er ihren Namen eintragen und so tun können, als wären sie verheiratet. Es war nie dazu gekommen, aber er hatte den Misyar mit sich herumgetragen, um notfalls lügen zu können. Und war Katyas Verlobungsring nicht die gleiche Art von Betrug? Er und sie versuchten beide, diejenigen zu hintergehen, die sie für ihre Sünden bestrafen würden. Doch ihre größte Sünde war nicht die Lüge selbst, sondern dass sie so taten, als sähe Allah nicht alles. Er kennet das Heuchlerische der Augen und was die Brüste verbergen .
    Nayir hatte seinen Misyar verbrannt. Und jetzt fragte er sich, was Katya mit ihrem Ring machen würde.
     

40
     
    Als Miriam das nächste Mal erwachte, wurde sie gerade von der Rückbank eines Geländewagens gezerrt und auf die Füße gestellt. Mabus stand neben ihr und hielt sie am Arm fest. Panik überkam sie. Sie schaute sich um und sah etwa zehn Meter entfernt ein kleines sandfarbenes Haus, das sich blass von einem Hintergrund aus Dünen abhob. Die Sonne stand am Himmel, und es war glühend heiß.
    »Wo sind wir?«, fragte sie, aber er zog sie schon Richtung Haus. Sie stolperte neben ihm her, weil ihre Füße noch immer locker mit einem Strick gefesselt waren. Linker Hand bemerkte sie eine Garage, deren Tür weit offen stand. Weiter unten am Hang stand ein kleineres Gebäude, von dem sie aber nur einen kurzen Blick erhaschte, bevor Mabus mit ihr die Tür erreichte. Er stieß sie ins Innere, wo es relativ kühl war. Sie befand sich jetzt in einem sehr kleinen Zimmer mit einem großen Schreibtisch und einer Bücherwand, die den Raum noch beengter wirken ließen. Über dem Schreibtisch sah sie ein altes Klimagerät, das an einen Generator auf dem Boden angeschlossen war.
    Mabus führte sie nach

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