Totenverse (German Edition)
einem Moment öffnete sie ein Auge, wund und rot, dann das andere. Sie war allein auf der Rückbank.
Sie kletterte nach vorne. Vor dem Fahrerfenster stieg der Sand an wie in einer Eieruhr. War Nayir hinter dem Kamel her? War er irgendwo da draußen und erstickte im Sand? Sie wandte sich dem anderen Fenster zu, konnte aber nichts sehen. Das Licht war dunkelrot, wurde allmählich braun. Sie stieg auf die Rückbank und dann in den Kofferraum. Ganz gleich, wohin sie sich wandte, sie sah überall nur Sand.
Sie sank in sich zusammen. Als sie sich vorsichtig mit dem Ärmel über die brennenden Augen wischte, spürte sie, dass ihr Gesicht nass war. Der Ärmel war blutig, als sie ihn wieder senkte, und der Schmerz war so heftig, dass sie am liebsten losgeheult hätte. Und sie tat es. Zumindest, so dachte sie, würden die Tränen ihr den Dreck aus den Augen spülen.
Sie hörte einen lauten Schlag auf dem Wagendach, wie ein Schritt. Dann mehrere Schläge, als würden dort oben mehrere Leute herumlaufen. Sie blickte hoch. Das Wagendach war von dem Gewicht leicht eingedrückt, deshalb kletterte sie wieder nach vorne und rutschte vor der Rückbank auf den Boden, wo sie reglos liegen blieb.
Ein Hämmern ertönte über ihr, und sie öffnete die Augen. Sie sah eine Messerklinge durch das Dach stechen, sich verkanten und wieder verschwinden. Wieder ein donnernder Schlag. Noch mehr Füße? Die Klinge erschien erneut, und diesmal blieb sie stecken. Miriam schluckte zum ersten Mal und spürte, wie ein Strom von Sand neue Furchen in ihre Kehle grub.
Nayir wartete, bis der Sand so hoch war, dass er und das Kamel auf das Wagendach steigen konnten. Das dauerte nicht lange. Währenddessen band er sich einen weiteren Stofflappen vors Gesicht und dann noch einen, der die Augen schützte. Er würde sich ohnehin nur tastend behelfen können. Er band sich die Zügel des Kamels um die Taille und befestigte sie mit einem Slipknoten, für den Fall, dass das arme Tier unter den Sand gezogen wurde.
Sobald der Sand sich vollständig um den Rover geschlossen hatte, stieg er von der Motorhaube aufs Dach und zog das Messer aus der Scheide. Mit einiger Mühe gelang es ihm, das Seil, das er ebenfalls um die Taille geschlungen hatte, am Messergriff zu befestigen. Die ganze Zeit über attackierte der Sturm ihn mit peitschenden Sandböen. Er fiel auf die Knie, rammte das Messer mit einigen Hieben, so tief er konnte, in das Autodach, hoffte inständig, dass Miriam so klug war, es auch darin stecken zu lassen.
Der Sand stieg weiter an. Jede Minute musste er seine Füße aus dem Sand herausziehen, der sie frisch begraben hatte. Er stampfte den neuen Sand mit den Schuhen fest und vergewisserte sich, dass sich weder das Seil um die Taille noch die Zügel der Kamelstute gelockert hatten. Während die Minuten verstrichen, spürte er, wie seine Kleidung zerfetzt wurde und der Wind ihm förmlich die alte Haut vom Körper zog. Ihn quälte abwechselnd ein Gefühl der Taubheit und brennender Schmerz.
Er betete, dass das Kamel zumindest durchhielt, bis das Schlimmste überstanden war. Das Tier war sein Hauptschutz vor dem Wind, und wenn es fiel, würde er es niemals über die neuen Sandschichten heben können, die sich unaufhörlich bildeten. Nayir zog sich dicht an den Kopf der Stute und tastete nach dem Maul. Obwohl es mit einer faustdicken Schicht Sand verklebt war, schien sich das Kamel gut zu halten. Nayir drückte das Maul von beiden Seiten auf und wischte den Schmutz heraus, doch dabei gelangte nur noch mehr hinein. Das Kamel prustete und schnalzte mit der Zunge. Es stand vollkommen still, ein verstörtes Tier, das mechanisch durch große klebrige Nüstern schnaubte, die dick mit Sand und Rotz verkrustet waren.
Unter ihnen starrte Miriam auf die Messerspitze, die aus dem Dach ragte. Sie dachte sich, dass es wohl als eine Art Anker dienen sollte, der helfen sollte, sie zu finden, wenn der Sandsturm vorüber war. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Nayir da oben überlebte, dass er nicht im Sand erstickte.
Wenige Minuten später bemerkte sie ein dünnes Sandrinnsal, das um die Klinge herum herabrieselte und schon einen kleinen Hügel auf dem Rücksitz gebildet hatte. Sie berührte das Messer mit der Hand und es kippte zur Seite, sodass noch mehr Sand eindrang.
Von Angst getrieben, rappelte sie sich hoch. Sie griff nach oben und versuchte, das Loch im Dach mit den Fingern zuzuhalten. Sie brauchte beide Hände, um den Sandfluss zu stoppen. Nach
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