Totenverse (German Edition)
über ihm auftauchte. Es zuckte vor Schreck, fand dann aber Halt und bewegte sich schräg die Düne hinunter.
Nayir lief ihm entgegen, das Seil fest in der Hand. Miriam zitterte am ganzen Körper und krallte sich am Hals des Tieres fest. Er führte das Kamel das letzte Stück hinunter und wusste einen panischen Moment lang nicht mehr, wo der Wagen stand. Doch der Sand, der alles verdunkelte, hob sich kurz, und Nayir sah schwach die schwarzen Umrisse des Rovers. Dorthin eilte er, so schnell er konnte, und zog das Kamel mit Miriam hinter sich her.
42
Nayirs Gesicht und Arme waren wund von dem brennenden Wind, als er sein Shemagh abband und Miriam ansah. Sie saß auf dem Beifahrersitz des Rovers, rang hustend nach Luft, und Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Ruhig atmen, Miriam«, sagte er, nahm hastig ein Ersatzkopftuch von der Rückbank und reichte es ihr. »Hier, nehmen Sie das.«
Sie nahm das Tuch und hustete hinein, atmete keuchend. Nach einem Moment setzte sie sich auf, obwohl ihr ganzer Körper noch immer bei jedem mühsamen Atemzug zitterte. Sie legte eine Hand auf die Brust und versuchte zu sprechen, bekam aber keinen Ton heraus.
Er griff nach hinten und gab ihr eine Wasserflasche. »Trinken Sie. So viel Sie können.«
Sie nahm die Flasche, wischte sich mit dem Ärmel Tränen von den Wangen und trank vorsichtig einen Schluck. Beim Schlucken verzog sie das Gesicht und blinzelte hektisch.
»Gleich wird’s besser«, sagte er. »Husten Sie weiter.«
Gehorsam hustete sie erneut, was ihr frische Tränen in die Augen trieb.
»Ich dachte, Sie wären Mabus«, krächzte sie.
»Nicht reden«, sagte er. »Immer weiter trinken.«
Er legte den Gang ein und begann zu beten: Bismillah, ar-rahman, ar-rahim … Als er Gas gab, ruckten die Räder, aber der Wagen bewegte sich nicht. Er drückte das Pedal weiter durch. Ohne Erfolg. Er gab noch mehr Gas und hörte die Räder durchdrehen, nutzlos im Sand rotieren. »Verdammt.«
Miriam gab ein leises entsetztes Stöhnen von sich.
Seine Hände zitterten, als er sie vom Lenkrad nahm. Jetzt blieben ihnen zwei Möglichkeiten. Sie konnten entweder versuchen, den Wagen aus den ausgehöhlten Spurrillen zu schieben, oder bleiben, wo sie waren, und den Sandsturm aussitzen. Er blickte an Miriam vorbei zum Fenster hinaus. Der Sturm war jetzt ganz nah, und wirbelnde Sandsäulen erhoben sich vom Boden wie zornige Geysire. Zwischen den dunklen Sandböen sah er das Kamel, dem der Wagen nur dürftigen Schutz bot.
Durch einen Tränenschleier hindurch beobachtete Miriam, wie Nayir sich mit geschmeidiger Entschlossenheit bewegte, während er von der Rückbank ein Seil und ein gefährlich aussehendes Messer in einer schwarzen Scheide holte und beides an seinem Gürtel befestigte. Dann kletterte er vollends auf die Rückbank und beugte sich nach hinten in den Kofferraum, um seine gesamte Ausrüstung nach vorne zu hieven. Zum Schluss zog er ein Paar Wanderstiefel an.
»Wir müssen hier abwarten, bis der Sturm vorbeigezogen ist«, sagte er. »Das kann lange dauern, aber Sie dürfen keine Angst haben, okay?« Sie nickte. »Bleiben Sie ruhig«, sagte er. »Und atmen Sie langsam, damit Sie nicht ohnmächtig werden.«
»Okay.«
»Und egal, was passiert«, sagte er, wobei er sie eindringlich ansah, »Sie bleiben im Wagen.«
Sie nickte. Er reichte ihr noch ein Kopftuch.
»Wofür ist das?«, stammelte sie und hustete wieder.
»Sie sollen mir helfen, das Kamel in den Kofferraum zu bugsieren.«
»Oh. Geht es denn da rein?«
»Es wird eng werden. Wickeln Sie sich ein Tuch fest um den Kopf und dann das hier ums Gesicht, damit die Augen geschützt sind. Lassen Sie bloß einen ganz kleinen Sehschlitz frei. Sie müssen flach atmen und bei Bewusstsein bleiben. Immer weiter atmen, unter allen Umständen.«
Er kramte ein wenig herum, bis er eine Packung Papiertaschentücher fand. Er riss eines in Streifen und gab sie ihr. »Stecken Sie sich die in die Ohren, so viele wie möglich. Schnell.«
Er band sich ein Stück Stoff über Nase und Mund und verknotete es fest am Hinterkopf.
»Ich steige jetzt aus«, sagte er. »Dann klettern Sie hier rüber. Ich schiebe das Kamel rein, und Sie ziehen. Alles klar?«
»Alles klar.«
Er schlüpfte hinaus in den Sturm.
Sie zwirbelte die Papierstreifen zusammen und presste sie fest in die Ohren, obwohl es wehtat und drückte. Nachdem sie sich ein Tuch um den Kopf gewickelt und das andere vors Gesicht gebunden hatte, so wie sie es bei Nayir
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