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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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Gefühl, mit einem universalen Bewusstsein eins zu sein. Die andere war bloße Negation und ging einher mit einem beängstigenden Verlust von Zeitgefühl und Identität, grausamer sensorischer Deprivation. Diese zweite Art erlebte er jetzt.
    Neben ihm lag Miriam schwach und halb ohnmächtig, ein nasses Segeltuch um den Kopf gewickelt. In unregelmäßigen Abständen stöhnte sie oder bat um Wasser, doch die meiste Zeit war sie nicht ansprechbar. In den Phasen der Stille dazwischen hörte er das quälende Geflüster der Dschinn.
    Miriam war erst wach geworden, als die Sonne schon aufging. Sie hatte Wasser getrunken und war wieder eingeschlafen. Jetzt lag sie in dem Zelt, das er als Sonnenschutz aufgebaut hatte. Er hatte nicht die Kraft, sie zurück zu Mabus’ Haus zu tragen, und er wollte sie nicht allein lassen. Sie war zu schwach. Außerdem war er nicht mal sicher, wo Mabus’ Haus war oder ob Mabus dort sein würde und, falls ja, in welchem Zustand. Aber hier konnten sie nicht bleiben. Das Thermometer an seinem Schlüsselbund stand schon fast auf 39 Grad, und es war erst acht Uhr morgens. Das Problem war, dass sie kein transportables Wasser hatten; der große Kanister aus dem Rover war zu schwer, um ihn mitzuschleppen, zumal Nayir Miriam würde tragen müssen. Außer dem Kanister hatten sie nur die kleine Wasserflasche und ein paar Plastikflaschen, viel zu wenig, um es bis zu Mabus’ Haus zu schaffen. Tagsüber würde die Menge vielleicht für sieben Kilometer reichen, ehe sie zusammenbrachen, nachts für höchstens vierzig. Sobald es dunkel wurde, würden sie Richtung Westen aufbrechen, vielleicht schon etwas früher, falls Wind aufkam. Nayir hoffte, dass sie dann irgendwo auf die Landstraße stoßen würden.
     
    Das Zelt bestand aus einer Plane und vier Stangen. Es schirmte sie nach drei Seiten hin ab, wie die Beduinenzelte, die ihm so gut gefielen, und er war den Amirs dankbar, dass sie daran gedacht hatten, es mit in den Rover zu packen. An der offenen Seite hing ein dunkelblaues Netz herunter, das Luft hereinließ. Es war drückend heiß, aber ohne das Netz wäre es noch schlimmer.
    »Es kommt niemand«, röchelte Miriam und hob den Kopf.
    Beim Klang ihrer Stimme setzte Nayir sich auf. »Die wissen, dass ich hier draußen bin«, sagte er, »die haben die Koordinaten.« Aber noch während er das aussprach, schämte er sich für die Lüge. Kein Mensch wusste, dass er hier war, nicht einmal Samir. Er hätte wenigstens seinen Onkel anrufen sollen, ehe er losfuhr, aber am Morgen hatte er es zu eilig gehabt, und als es ihm endlich wieder einfiel – nämlich als er Mabus’ Haus erreichte –, hatte sein Handy keinen Empfang mehr gehabt. Die Chancen, dass sich irgendwer zufällig in diesen Teil der Wüste verirrte, waren gleich null.
    Er schaute auf den Sand vor dem Zelteingang. Die Ränder ihrer Fußabdrücke bewegten sich im ersten Lufthauch des leise aufkommenden Windes. Die Märchen, die er als Kind gehört hatte, begannen stets mit den Worten kan ya ma kan  – es war, und es war nicht. Irgendwann hatte er diese Worte mit der Wüste verbunden. Dort konnte ein Abdruck, den ein Fuß im Sand hinterließ, im Nu wieder verschwunden sein, achtlos vom Wind weggewischt. Wie sein Rover, der jetzt unter metertiefem Sand ruhte. Wie das Kamel, das in der Sonne verdorrte. Und wie ein Teil von ihm selbst, der noch vor zwei Tagen geglaubt hatte, dass Gebet und Schicklichkeit die Gegenmittel für alles waren, woran die Welt krankte.
    »Wo sind wir?«, fragte Miriam.
    »In der Wüste«, sagte er. »Denken Sie nicht darüber nach. Lauschen Sie nur auf Geräusche.«
    »Was für Geräusche?«
    »Irgendwelche Geräusche.«
    »Ich höre gar nichts«, sagte sie.
    »Das liegt daran, dass Sie reden.«
     
    Sie presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Nayir machte dasselbe. Er meinte, irgendwo aus westlicher Richtung etwas zu hören, aber nach einem Moment der Stille befand er, dass er sich das nur eingebildet hatte.
    Plötzlich fuhr Miriam hoch und kam unsicher auf die Beine. »Oh Gott«, stammelte sie. Nayir sprang auf und stützte sie, damit sie nicht hinfiel. Sie krümmte sich, taumelte, klammerte sich an den Ärmeln seines Gewandes fest. »Oh Gott, Eric «, sagte sie.
    Ihr entsetzter Blick machte ihm Angst, und noch ehe er sie wieder zu Boden drücken konnte, packte sie die Plane und riss das Zelt ein. Eine Plastikstange zerbrach und klatschte gegen seine Schulter. Er versuchte, sich zu befreien, aber Miriam

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