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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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fünf Minuten konnte sie nicht mehr und ließ die Arme sinken.
    Sie zog die Papierfetzen aus den Ohren und stopfte sie um die Ränder. Die Abdichtung war weniger stark als ihre Finger und hielt keine dreißig Sekunden, dann wurde sie rausgedrückt, und Sand spritzte Miriam ins Haar. Sie durchwühlte Nayirs Ausrüstung nach etwas Robusterem und fand eine Rolle Isolierband. Sie ließ den Fingernagel über die Rolle gleiten, bis sie den Anfang gefunden hatte, und riss einen langen Streifen ab. Dann stopfte sie die Papierstreifen wieder an Ort und Stelle und verklebte das Loch mit mindestens anderthalb Metern Isolierband. Das schien zu halten.
    Sie stieg auf den Vordersitz, obwohl sie nicht genau wusste, warum – vielleicht weil dort am meisten Platz im Wagen war. Sie rutschte unruhig herum, wischte sich die Augen, versuchte nicht darüber nachzudenken, wie viel Zeit ihr noch blieb, wie viel Sauerstoff noch im Wagen war. Dann und wann starrte sie zu dem jetzt unter Klebeband verschwundenen Messer hinauf und wünschte sich, es könnte als Antenne dienen und ihr Nachrichten von oben übermitteln.
    Nayir stieg höher. Kleine Kerben im Seil markierten die Stellen, wo es beim Verpacken gekrümmt worden war. Er zählte sie mit den Händen ab, ertastete jeden Knick. Er schätzte, dass sie etwa sechzig Zentimeter über dem Dach waren. Und das Schlimmste kam erst noch. Der Wind war zwar stark, aber noch immer richtungslos und böig. Das Herz des Sturms dagegen würde erbarmungslos sein, ihn aus einer einzigen Richtung angreifen, und das mit einer Wucht, die Autos durch die Luft schleudern konnte. Die Zügel, die ihn an das Kamel banden, schnitten ihm jetzt in die Haut und waren blutgetränkt. Er hoffte, dass er noch die Kraft haben würde, sich festzuhalten, wenn das Zentrum des Sturms über sie kam.
    Miriam fragte sich, ob Nayir immer so tapfer war oder nur in Gefahrensituationen über sich selbst hinauswuchs. Sie schloss die Augen. Auf einmal war ihr heiß, und sie zog ihren Umhang aus. Eine Minute später riss sie sich fast alle Kleidung vom Leib und legte sich quer über die beiden Vordersitze. Sie rang nach Luft in dem mit Sand umhüllten Wagen und fragte sich in den seltenen Augenblicken der Klarheit, warum alles so dunkel war.
    Nayir war halb weggetreten, als der Aufwärtsstrudel ihn erfasste. Obwohl er in einen traumähnlichen Zustand geglitten war, Augen, Nase und Mund von Sand verstopft, spürte er doch, dass jetzt das Schlimmste kam. Der Sturm packte ihn mit plumper Riesenhand und hob ihn hoch, weit über die Spitzen der Minarette und den edlen Kubus der Ka’aba. Sein Körper hing schräg, festgehalten nur von dem Seil um seine Brust. Er war ein Teppich, der in einem märchenhaften Traum dahinflog. Ein flatternder Papierdrachen. Und inmitten seiner Schwindelgefühle spürte er etwas Schweres neben sich. Das Kamel, das haltlos vom Wind gepeitscht wurde wie der Sand selbst. Nayir schloss die Augen und betete um ein Stück Himmel.
     

43
     
    Die Hand, die das Seil umklammert hielt, erwachte und packte fester zu. Er spürte seine Schulter reagieren. Er hatte das Seil noch immer umgebunden.
    Er hob den Kopf, schüttelte ihn. Der Sand fiel ab. Augen öffneten sich. Dunkelheit wurde bläulich, er blinzelte und spürte, wie Tränen ihm Schmutz aus den Augen spülten.
    Als er versuchte, seine Beine zu bewegen, merkte er, dass sie unter Sand begraben waren. Er wand stattdessen seine Arme frei, band vom rechten das Seil los und trat und strampelte so lange, bis es ihm gelang, auf die neue Schicht Sand zu steigen.
    Es war Nacht, aber die Landschaft war in Mondlicht getaucht. Er schälte die Tücher von seinem Gesicht und sah, dass sie nass und dunkel waren, blutgetränkt. Er blinzelte so lange weiter, bis seine Augen wieder einigermaßen klar waren, und entdeckte die Stelle, wo das Seil im Sand verschwand. Er kniete sich unbeholfen hin und begann, wie wild zu graben, doch der Sand war zu locker. Jede Vertiefung, die er aushob, füllte sich gleich wieder.
    Das Kamel lag ein Stück entfernt. Sein Kopf ragte aus dem Sand wie ein Grabstein. Nayir konnte noch immer nicht richtig klar sehen, aber er ging zu dem Tier. Es war tot. Er schob die Arme in den Sand und fühlte, dass die Stute auf der Seite lag. Als er noch tiefer tastete, gelang es ihm, das Schweizer Messer aus dem Packsattel des Kamels zu ziehen, wo er es verstaut hatte, nachdem er erfolglos versucht hatte, das Tier in das Wagenheck zu bugsieren. Er nahm das Messer und

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