Totenverse (German Edition)
Wenn er etwas sagte, begann er meist einen vielversprechenden Satz, der dann aber in peinlich sinnlosem Gestammel endete. Damals hatte sie panische Angst gehabt, dass auch ihrem Körper etwas ähnlich Unvorhersehbares zustoßen könnte, aber später hatte gerade diese rätselhafte Verbindung zwischen Materie und Bewusstsein ihr Interesse an Biologie und Wissenschaft geweckt. Nun jedoch stieg wieder die alte mystische Angst vor menschlicher Schwäche und der damit einhergehende Zweifel an der Natur des Geistes in ihr auf.
»Katya.« Adara riss sie aus ihren Gedanken und hielt ihren Blick fest. »Warum sind Sie hier?«
»Weil Sie mich –« Sie verstummte, weil ihr plötzlich klar wurde, dass Adara die Wahrheit hören wollte oder vielleicht auch hören musste. »Weil ich es möchte.« Da Adara nichts erwiderte, zwang sie sich weiterzureden. »Ich möchte mehr tun. Ich bin es satt, immer nur im Labor zu sitzen und zu spekulieren, was mit den vielen Toten passiert sein mag. Wir bekommen ja immer nur Bruchstücke von Informationen.«
»Ich weiß, ich war auch mal Laborassistentin.«
Das überraschte Katya. Irgendwie hatte sie immer gedacht, Adara wäre voll ausgebildet aus dem Schoß der medizinischen Fakultät geschlüpft. »Und wie sind Sie dann Rechtsmedizinerin geworden?«
»Man benötigte eine Frau, um bei gewissen weiblichen Opfern die delikateren Fragen abzuklären.« Sie deutete mit einer anmutigen Bewegung auf den Leichnam, ohne der Geste mit den Augen zu folgen. »Mir wurde gesagt, es ginge um die Opfer, bei denen die Familien das verlangten. Weil sie nicht wollten, dass ein fremder Mann ihre geliebten Töchter oder Ehefrauen berührte. Aber in Wahrheit bekomme ich die Fälle, mit denen sich die männlichen Kollegen nicht abgeben wollen. Hauptsächlich Hausmädchen.« Sie blickte nach unten auf die Leiche. »Ich will damit nicht sagen, dass sie ein Hausmädchen war. Aber bei den wichtigen Fällen ist immer ein männlicher Rechtsmediziner dabei. Sie trauen uns nicht zu, dass wir ordentlich arbeiten, und da liegt das Problem. Ein kleiner Fehler von mir, und schon sehen sie sich in all ihren Vorurteilen gegen mich bestätigt. Die gute Seite daran ist, dass ich durch den ganzen Druck richtig gut geworden bin. Im ganzen Haus ist kein Rechtsmediziner besser als ich.« Sie sagte das voller Stolz, ohne eine Spur von Scham, und Katya bewunderte sie dafür leidenschaftlich.
»Ich weiß nicht, ob ich gern mit Ihnen tauschen würde«, sagte Katya, die auf den misshandelten Arm des Opfers starrte, während sie sich den Druck vorstellte, unter dem Adara stand.
»Ich mag meine Arbeit«, sagte Adara. »Ich bin von Allah hierhergeschickt worden, aber mich hier zu halten ist nach wie vor ein ständiger Dschihad. Sie wissen ja, was der Prophet, Friede sei mit ihm, gesagt hat: Die Rechte der Frauen sind heilig. Sorgt dafür, dass Frauen die Rechte erhalten, die ihnen gebühren .«
Katya nickte respektvoll. Adaras Gesicht war ernst und entschlossen, ungeschminkt und niemals hinter einem Neqab versteckt. Sie trug keinerlei Schmuck. Sie war häufiger schwanger als nicht schwanger, aber sie jammerte niemals über die vielen Überstunden, nicht im dritten Monat, wenn sie kaum etwas bei sich behalten konnte, nicht im neunten Monat, wenn ihre Knöchel birnenförmig angeschwollen waren. Selbst ihre Körpersprache hatte nichts Klagendes an sich. Ihr resoluter Gang, ihre knappen Bewegungen, mit denen sie von einer Seite des Raumes zur anderen eilte, kündeten nur von der unerschütterlichen Entschlossenheit eines einsamen Strauches in der Wüste. Neben ihr fühlte Katya sich wie ein unerfahrenes Schulmädchen.
»Ich kann nicht mehr immer nur still sitzen«, machte Katya sich Luft. »Ich kann mir das Leben dieser Menschen nicht durch Gewebeproben und Biopsien anschauen. Ich will raus . Ich will wissen, wen sie gekannt haben. Wie sie gelebt haben. Wo sie gestorben sind. Ich will Ermittlerin werden.«
Adara betrachtete sie ganz ähnlich, wie ihre Mutter sie angesehen hatte, als Katya zugeben musste, dass sie deshalb nicht heiraten wollte, weil ihr künftiger Bräutigam ein Dummkopf war.
»Dann werden Sie auch eine werden«, sagte Adara. »Wenn Sie durchhalten.« Sie richtete den Blick wieder auf die Leiche. »Die gleichen Blutergüsse am linken Arm.«
»Was denken Sie?«, fragte Katya. »Ist sie misshandelt worden?«
»Ich hab bei vielen Hausmädchen ähnliche Prellungen an den Oberarmen festgestellt. Da wurden sie gepackt und
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