Totenverse (German Edition)
manchmal ein bisschen übertrieb, ja, aber dass die Männer auch nur ihre Arbeit taten. Die Polizei in Amerika hielt doch andauernd Ausländer an, oder etwa nicht? Sie mussten sich einfach damit abfinden, solange sie hier waren, die andere Kultur respektieren und bla bla bla. Dieses Szenario kam ihr so realistisch vor, dass es einfach wahr sein musste. Zumindest war es die Art von Erklärung, die Eric sich überlegen würde, wenn sie verschwunden wäre.
Andererseits, wenn sie verschwunden wäre, würde Eric wahrscheinlich irgendwas unternehmen.
Sie blickte zu dem Handy hinüber, das auf dem Tisch lag. In Wahrheit hatte sie schon den ganzen Morgen daran gedacht, das Konsulat anzurufen, aber sie wollte sich nicht lächerlich machen.
Sie fing an, durch die Wohnung zu wandern, tigerte hin und her, überlegte, ob sie sich trauen sollte, zu dem Laden an der Ecke zu gehen. Ihr Blick fiel auf das schmutzige Waschbecken im Bad. Während sie es putzte, erwachten in ihrem Kopf dunklere Visionen. Auch die Geheimpolizei warf Leute ins Gefängnis, aber deren Bunker waren nur Insidern und einer Handvoll saudischer Honoratioren bekannt. Wenn Ausländer auf diese Weise verschwanden, tauchten sie oft monate- oder jahrelang nicht wieder auf. Machtlos wie Frauen fristeten sie ihr Dasein, warteten auf Anwälte, die nie kamen, auf Prozesse, die nie stattfanden. Wenn sie zum Konsulat ging, würden die sie wahrscheinlich schneller aus dem Land schaffen, als man das Wort »unschicklich« aussprechen konnte. Dann säße Eric hilflos in irgendeinem finsteren Loch fest und müsste auf einen Gerichtstermin warten, der nie anberaumt würde …
Schluss damit , rief sie sich zur Räson. Denk an etwas anderes .
Sie ging zurück in die Küche. Ein widerwärtiger süßlicher Geruch drang aus dem defekten Abfallzerkleinerer unter dem Spülbecken, und sie machte sich an die Arbeit, räumte den Schrank unter der Spüle aus, klemmte sich eine Taschenlampe zwischen die Zähne und schraubte das Abflussrohr ab. So frustriert sie war, die handwerkliche Beschäftigung tat ihr gut. Als sich das Rohr endlich löste, platschte ihr der schleimige Dreck, der sich in mehreren Wochen angesammelt hatte, über die Hände. Teeblätter. Soweit sie wusste, hatte Eric nie im Leben eine Tasse Tee angerührt, bevor sie herkamen, jetzt jedoch verbrachte er fast seine gesamte Freizeit im Salon der Männer und trank mit seinen Freunden Tee. Nicht mit Jacob oder den anderen Amerikanern in seiner Firma, nein, Eric umgab sich mit Arabern, die recht freundlich waren, es aber für ungesittet gehalten hätten, mit einer Frau ein Gespräch anzufangen. Sie fanden es seltsam, dass Miriam nicht wusste, wie man Tee kochte, dass Eric das selbst übernahm, weil er die Kunst der saudischen Teezubereitung erlernen wollte. Einmal hatte sie sogar ein Foto von Eric mit einem Teekessel in der Hand gemacht. Als sie ihn deswegen aufzog, hatte er verlegen die Schultern gezuckt und gesagt: »Das trinken die Jungs nun mal am liebsten.«
Ihr fiel auf, wie leicht er diese neuen Regeln der Männlichkeit übernahm. Andere Männer auf die Wange küssen. Sie umarmen. Stundenlang herumsitzen und plaudern und lachen wie pubertierende Mädchen, die augenblicklich verstummen, wenn die Eltern den Raum betreten. Anfänglich reagierte sie auf diese Veränderungen mit einem zärtlichen Gefühl der Dankbarkeit, auch wenn sie ihr ein wenig eigenartig vorkamen. Dem gebrochenen Mann, der gefangen in einer erdrückenden Hyper-Männlichkeit aus dem Irak heimgekehrt war, schien diese mädchenhafte Transformation gutzutun. Und da war noch etwas, das tiefer ging – vielleicht das gute alte protestantische Gewissen? Ich habe Muslime getötet, und jetzt wasche ich mich rein? Was auch immer die Gründe waren, Eric hatte sich in Saudi-Arabien verliebt, schwer verliebt, auch wenn er gelegentlich einräumte, dass das Land für Frauen nicht gerade optimal war.
Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit ihm auf der Veranda ihres Hauses in Fayetteville, nachdem er den Vertrag für seinen Job hier unterschrieben hatte. Er hatte beim Öffnen einer Flasche Sekt die Verandaschaukel vollgekleckert, und sie hatte ihn geneckt, weil er so begeistert war. »Bist du sicher, dass es nicht noch einen anderen Grund gibt, warum du unbedingt dahin willst? Einen weiblichen Grund vielleicht?«
Er hatte verschmitzt gegrinst und sie auf den Hals geküsst. »Ich liebe dich, Miriam«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. »Und ich schwöre dir,
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