Totenverse (German Edition)
wusste, dass nämlich die anderen beiden Ermittler – deren Namen sie vergessen hatte – als ziemlich rücksichtslos verschrien waren, weil sie jeden verhafteten, der irgendwie mit der Tat in Verbindung stand, sogar Angehörige und Freunde des Opfers, ob die Beweislage das nun rechtfertigte oder nicht. Katya empfand stets Mitleid mit den betroffenen Angehörigen, die ins Gefängnis mussten, während sie noch um einen geliebten Menschen trauerten, auch wenn es häufig genug vorkam, dass tatsächlich ein Angehöriger der Täter war. Osama war der Einzige, der seinen Zeugen und Verdächtigen mit einem gewissen Respekt begegnete. Zumindest verhaftete er sie längst nicht so oft, wie seine Kollegen das taten, und wenn er welche festnahm, dann sorgte er auch dafür, dass sie gut behandelt wurden.
»Ich mach mich dann mal an die Arbeit«, sagte Katya, nahm den Beutel und ging.
Katya öffnete den Schrank mit den Unterlagen zu den jüngsten Fällen. Zainab hatte sie immer noch nicht alphabetisch geordnet. Katya kniete sich hin und las die Namen der jeweiligen Opfer. Sie hatte keine der Leichen gesehen, aber aufgrund der eindringlichen Bilder, die die eigene Vorstellungskraft heraufbeschwören kann, waren ihr die Details jedes einzelnen Falls lebhaft in Erinnerung geblieben. Roderigo, Thelma . Eine Hautprobe. Gequetschte Iris. Fremdes Blut unter den Fingernägeln. Alvarez, Najwa . Ein abgetrennter Daumen. Fingerabdrücke auf einem Handy. Dem Handy eines Mannes. Und eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Geschlechtskrankheiten. Von den einundzwanzig Tötungsdelikten, die sich in diesem Sommer bereits hier im Schrank angesammelt hatten, waren bei neunzehn Frauen die Opfer gewesen. Zwölf davon Hausmädchen. Was bedeutete, dass sie unverhältnismäßig stark vertreten waren.
Eva mochte durchaus auch eine saudische Hausfrau gewesen sein, also wieso sah Katya sie im Geist so klar als Bedienstete?
Katya glaubte nicht an Intuition. Sie glaubte an das, was ihr Vater gern sagte: dass die Sinne Tausende von Informationen aufnahmen, von denen es nur sehr wenige bis ins Bewusstsein schafften. Und wenn das Unbewusste das Denken übernahm, konnte so einiges schiefgehen.
Sie trat an den Tisch, auf dem Evas Umhang ausgebreitet war. Katya hatte bereits einen Riss im Beckenbereich festgestellt, an einer Stelle, die zu den Blutergüssen an Evas Hüfte passen würde. Es sah aus, als hätte sich der Umhang an etwas verfangen, vielleicht als der Mörder den Körper über den Boden schleifte.
Diesmal sah sich Katya das Etikett an. India Fabric . Keine Designerware. So einen Umhang bekam man auf dem Kleider-Souk für 25 Rial. Der untere Saum war verblichen und teilweise ausgefranst, vielleicht die natürliche Folge, wenn ein Umhang zu lang war. An den Ärmelbündchen, die weder Druckknöpfe noch normale Knöpfe hatten und aussahen, als wären sie beim Waschen etwas eingelaufen, war der Stoff verschlissen, zweifellos weil Eva jedes Mal, wenn sie das Haus verließ, die Hände durch die Bündchen geschoben hatte. Die Abnutzung war im Vergleich zu dem eher mäßigen Verschleiß an Ellbogen und Kragen (der Druckknöpfe hatte) so ausgeprägt, dass sie den Umhang durchaus täglich getragen haben mochte. Über welchen Zeitraum – sechs Monate? Oder sechs Jahre lang einmal pro Woche? Nein, in sechs Jahren wäre der Stoff stärker ausgeblichen. Katya hatte in ihrem Leben schon eine Reihe von Umhängen besessen, und die Erfahrung sagte ihr, dass dieser hier weniger als ein Jahr lang häufig getragen worden war, denn sonst wäre die Farbe verblasst, wären die Nähte hier und da gerissen.
Wer trägt jeden Tag einen Umhang? Reiche Frauen verließen das Haus, wann immer sie wollten, aber deren abgetragene Umhänge wurden regelmäßig durch neue ersetzt. Eine berufstätige Frau verließ das Haus. Jemand wie Katya, aber niemand mit einem Beruf, wo ein so abgenutzter Umhang unangenehm aufgefallen wäre. Eine Fabrikarbeiterin? Jemand, der in einem Laden arbeitete, irgendwo versteckt im Lager, und die Regale auffüllte, wenn das Geschäft geschlossen hatte? Eine alleinerziehende Mutter würde jeden Tag aus dem Haus müssen, um ihre Kinder zur Schule zu bringen und einzukaufen. Und das Gleiche galt natürlich auch für eine verheiratete Mutter, die allein den Haushalt schmiss. Aber ein misshandeltes Hausmädchen hätte wahrscheinlich sogar Ausgangsverbot gehabt. Sie wäre isoliert gewesen, nachts in ihrem Zimmer eingeschlossen oder auch tagsüber, wenn sie
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