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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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beigebracht, den Neqab nur dann zu tragen, wenn es absolut nicht anders ging, daher hatte Katya ihn meist hochgeschlagen auf dem Kopf liegen, bereit ihn herunterzuklappen, wenn mal wieder irgendein frömmelnder Bürokrat sie mit scharfen Worten oder bösen Blicken zur Ordnung rief.
    »Halten Sie sich für so hässlich«, hatte der letzte gefragt, »dass kein Mann Ihr Gesicht anziehend findet? Entblößen Sie es deshalb?«
    Nein , hätte sie am liebsten gekontert, ich hab bloß irrtümlicherweise gedacht, Sie besäßen in Sachen Sexualität ein bisschen Selbstbeherrschung . Aber das war an ihrem letzten Arbeitsplatz gewesen. Hier hatte sie noch keiner zurechtgewiesen.
    Im Augenblick hatte sie noch drei andere Fälle auf ihrem Schreibtisch liegen – bewaffnete Überfälle und eine Selbsttötung –, und sie wusste, dass sie eigentlich daran arbeiten sollte, aber das Bild von Evas Leiche war ihr seit dem Vortag nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie beobachtete Majdi durch die Scheibe. Bitte, bitte , dachte sie, lass das einen von seinen Fällen sein . Bei ihm konnte sie immer darauf setzen, dass er sie bei wichtigen Fällen mit einbezog, aber bislang war noch keiner so wichtig gewesen wie dieser.
    Majdi trug wie üblich Jeans und ein zerknittertes T-Shirt. Offenbar hatte ihm mal wieder seine Schwester die Haare geschnitten, denn seine immer ausladendere Afro-Mähne war so radikal gestutzt worden, dass seinen Schädel nur noch eine dünne Schicht bedeckte, wie Babyhaar, und von dem buschigen Spitzbart war nur noch ein akkurates V übrig geblieben. Selbst während er telefonierte, wechselte er munter und gekonnt zwischen seinen diversen Arbeitsplätzen hin und her. Sie hätte gern im Labor mit ihm zusammengearbeitet – sein zappeliger, koffeingespeister, jungenhafter Enthusiasmus bildete einen reizvollen Gegensatz zu ihrer methodischen und überlegten Arbeitsweise. Aber sie war eine Frau, also hatte sie ein eigenes Labor. Wie irgendwer auf die Idee kommen konnte, dass er eine Gefahr für ihre Tugend wäre, war ihr unbegreiflich.
    »Katya!«, rief er, als er das Telefonat beendet hatte. »Guten Morgen.«
    »Guten Morgen, Majdi.« Sie betrat das Labor, das ungefähr so groß war wie ihr eigenes eine Etage höher. Die Geräte hier waren zwar neuer, aber es gab keine Fenster, und die Deckenbeleuchtung verlieh dem Raum die Atmosphäre einer Leichenhalle. Ein Glück, dass Majdi das nichts ausmachte. Auf seiner Brille war ein Fleck, der ganz nach Fingerabdruckpulver aussah. Als er merkte, dass sie darauf starrte, nahm er die Brille ab, um sie am Waschbecken abzuspülen.
    »Haben Sie gestern an dem neuen Fall gearbeitet?«, fragte Katya.
    »Ja«, antwortete er, »und ich hab schon nach Ihnen gesucht.« Er wandte sich um und strahlte sie an. Majdi neigte dazu, zwischen zwei Befindlichkeiten hin und her zu schwanken: Die erste war ein unbezähmbarer, munterer Überschwang und die zweite ein Zustand nahezu schmerzhaft intensiver Konzentration, wie sie sie bislang nur bei Kindern beobachtet hatte.
    »Ich war im Obduktionsraum«, sagte sie.
    Er drehte sich vom Waschbecken weg und setzte hastig seine Brille wieder auf. »Haben Sie die Leiche gesehen?«
    »Ich war bei der Obduktion dabei.« Sie verspürte die Versuchung, ihn ein wenig aufzuziehen, was ein Kinderspiel gewesen wäre. Wissen Sie, Majdi, Frauen machen nämlich auch Obduktionen . Und er wäre bis in die Haarspitzen rot angelaufen. Aber sie verkniff es sich.
    »Oh.« Das bedeutete so viel wie Donnerwetter . Er ging zum Schreibtisch, nahm einen Ordner und reichte ihn ihr. »Das ist alles, was wir im Fall Eva haben. Nicht gerade viel. Osama glaubt nicht, dass sie ein Hausmädchen war.« Er griff nach einem Beweismittelbeutel und hielt ihn ihr hin. »Vielleicht möchten Sie mal einen Blick auf den Hijab werfen?«
    Sie nickte, bemüht, nicht übereifrig zu wirken. Der Beutel enthielt einen schwarzen Umhang, ein Kopftuch und vermutlich einen Neqab. »Sehr gern«, sagte sie mit einem Lächeln. Majdi entspannte sich ein wenig, aber es machte ihm unübersehbar noch immer zu schaffen, dass sie bei einer Obduktion dabei gewesen war.
    »Bearbeitet Inspektor Ibrahim den Fall?«, fragte sie.
    »Ja. Und Sie können ihn ruhig Osama nennen. Er mag es nicht, wenn wir ›Inspektor Ibrahim‹ sagen. Ist jedenfalls gut, dass er die Ermittlungen leitet. Seit dem Tod seiner Frau übernimmt al-Khoury keine Fälle mehr, bei denen es um Frauen geht.« Er sprach nicht aus, was Katya bereits

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