Totenverse (German Edition)
Bild von sich zu verschicken, das jeder Fremde ohnehin sehen konnte? War das bloß ein Witz oder steckte mehr dahinter?
Lächle, du wirst gefilmt!
Katya stand auf. Stell dir vor, du wärst ein Mann auf der Straße . Sie schritt die gesamte Länge des Raumes ab. Betrachtete ihr Handy. Du hast gerade von einer Fremden eine kryptische Botschaft erhalten. Was machst du jetzt? Jeder, selbst eine Frau, würde sich umschauen und überlegen, wer die Nachricht geschickt haben könnte. Und was würden sie sehen? Vielleicht eine Frau mit einer Kamera. Damit wüsste der jeweilige Empfänger, von wem die Nachricht gekommen war. Und was dann? Die meisten Leute würden verärgert reagieren, wenn sie merkten, dass sie gefilmt wurden. Sie würden sich wegdrehen, Frauen würden das Gesicht bedecken. Nur der unerschrockene Mann würde – ja, was würde er tun?
Katyas Handy war relativ neu, aber sie fand heraus, wie man auf die Nachricht antwortete. Sie schrieb zurück: Zeig mir dein Gesicht .
Und wie von Zauberhand kam eine weitere Nachricht. Katya sah sich im Labor um. Sie hatte den Neqab nicht angerührt. Als sie die Nachricht öffnete, verschlug es ihr den Atem. Es war das Gesicht einer Frau, einer sehr schönen Frau. Sie hatte eine lange feine Nase und dunkelbraune Augen, umrahmt von dichten Wimpern. Ihr Ausdruck war lustig und verführerisch zugleich. Mitten auf der Stirn war eine kleine braune Erhebung, höchstwahrscheinlich ein Muttermal, aber sie machte ihr Gesicht nur noch interessanter.
Die Tür ging auf, und eine Frau kam herein. Sie stellte sich als Um-Karim vor, die syrische Spezialistin für Gesichtsrekonstruktion, von der Adara gesprochen hatte. Katya begrüßte sie und schob ihr Handy unauffällig zurück in die Tasche.
Die Frau trug einen regelrechten Eisernen Vorhang von Neqab, und sie nahm ihn nicht ab. Das war an und für sich nicht ungewöhnlich. Es waren auch früher schon Frauen ins Labor gekommen, die lieber verschleiert blieben, hauptsächlich weil Männer im Gebäude waren. Aber irgendwie kam Katya dieser Neqab ungemein wichtigtuerisch vor. Verehrter Betrachter , schien er zu sagen, ich kann in einem formlosen Klumpen ein Gesicht erkennen, aber du kannst das nicht . Sie reichte Katya eine Skizze, die sie mit Stift und Tinte auf ein einfaches Blatt Papier gezeichnet hatte.
Das Gesicht war anrührend hübsch. Katya erkannte eine starke Ähnlichkeit zu dem Bluetooth-Foto, und ihr Herz tat einen Satz. Sie sah Um-Karim an. »Schön.«
»Hmmmpf«, sagte Um-Karim. »Ich habe sie nicht schön gemacht, falls Sie das damit sagen wollen. Meine Arbeit basiert auf der computergesteuerten Analyse des Schädels und Tiefenmessungen des Gewebes. Ihnen ist hoffentlich klar, dass das Präsidium viel Geld für Ihre technische Ausrüstung ausgegeben hat und Sie hier über erstklassige Computersoftware für die Erstellung von Modellen verfügen. Leider zähle ich zu den ganz wenigen Leuten, die diese Möglichkeiten auch nutzen können.« Sie ließ die Bemerkung im Raum schweben, damit Katya genügend Zeit blieb, die volle Wucht der unterschwelligen Botschaft zu spüren: Wie wollen Sie denn je das Ansehen der Frauen hier im Haus verbessern, wenn Sie nicht mal Ihre eigenen Computer nutzen können? Vielleicht machte sie Katya aber auch die unzulängliche Ausbildung von Frauen allgemein zum Vorwurf. »Die Gesichtsinterpretation«, fuhr sie fort, »leitet sich von einer Reihe anerkannter Variablen im Hinblick auf die Gesichtsstruktur von Personen eines bestimmten Alters und einer bestimmten ethnischen Gruppe ab.«
Katya verspürte einen gewissen Mutwillen und beschloss, mit ihr zu spielen. »Aus welcher ethnischen Gruppe stammte sie?«
»Wenn ich mich festlegen müsste«, erwiderte die Frau in schwülstigem Ton, »würde ich sagen, sie war Beduinin.«
»Da legen Sie sich aber ziemlich genau fest.«
»Allgemeiner formuliert würde ich sagen, sie stammt von der arabischen Halbinsel.«
»Wie können Sie –?«
»Supraorbital ist ein Gewebeüberschuss zwischen Nasenwurzel und Glabella festzustellen, der bei gewissen Beduinenstämmen verbreitet ist.« Um-Karim deutete auf die Zeichnung. »Ich persönlich vermute, dass sich dieser Wulst als Reaktion auf grelles Sonnenlicht entwickelt hat. Das ständige Blinzeln, über Generationen hinweg, führt dazu, dass die Haut sich schließlich dauerhaft aufwirft.« Katya stellte sich vor, dass Um-Karims Gesicht sehr glatt war, mit dem leicht grauen Schimmer, den sie schon bei
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