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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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nicht gebraucht wurde.
    Katya beugte sich wieder über den Umhang und fuhr mit behandschuhten Fingern langsam über jeden Zentimeter Stoff, wie ein Seismograf, der bereit ist, jede kleinste Bodenerschütterung zu erfassen. Schließlich zog sie die Handschuhe aus und tastete nur noch mit den Fingerspitzen. Irgendwann registrierte sie das Fehlen von Reibung. Da, im Kniebereich war der Stoff glatt.
    Sie bewegte die Finger nach rechts, schloss die Augen, suchte nach Unregelmäßigkeiten. Langsam ertastete sie wieder weicheren Stoff. Sie hätte sich gern mit einem Blick vergewissert, ob es stimmte, aber sie tastete blind weiter, bis der glatt gewetzte Bereich zu einem deutlich abgegrenzten unregelmäßigen Kreis in Form eines Knies wurde. Ein gebeugtes Knie? Wer betete denn auf nur einem Knie?
    Katya öffnete die Augen und hielt den Umhang ins Licht. Da war die Stelle, wo der Stoff etwas dünner war, aber eben nur auf einer Seite.
    Sie ging zu einem anderen Tisch, auf dem die übrigen Kleidungsstücke ausgebreitet waren. An Evas Jeans, die steif getrocknet dalag, untersuchte Katya die Knie. Wieder sah es so aus, als wäre der Stoff links ein wenig abgenutzter als rechts.
    Sie griff zum Telefon und rief Adara an.
    »Im Fall Eva«, sagte sie. »War da Hornhaut am linken Knie?«
    Adara legte laut den Hörer ab. Katya hörte sie durch den Raum gehen, hörte das Zischen, als die Tür zum Kühlraum geöffnet wurde, das metallische Quietschen einer Schublade, die aus ihrem eisigen Nest gezogen wurde. Adara kam wieder ans Telefon. »Schwer zu sagen«, meinte sie. »Keins von beiden Knien weist eine verstärkte Hornhautbildung auf.«
    Katya war enttäuscht, aber das hatte nichts zu sagen. Das Gewand und die Jeans hatten das Knie möglicherweise geschützt.
    »Was ist mit dem Schienbeinbruch«, sagte Katya. »Könnte der sie so behindert haben, dass sie nicht auf dem rechten Bein knien konnte?«
    Adara überlegte kurz. »Mag sein, dass sie Schmerzen hatte, aber ich glaube nicht, dass das Bein steif war.«
    »Gut. Danke.«
    »Übrigens, Katya, die Syrierin, von der ich Ihnen erzählt habe, ist gerade hier und macht eine Skizze vom Gesicht. Wenn sie fertig ist, schicke ich sie zu Ihnen.«
    Katya war überrascht. »Nicht zu Majdi?«
    »Ich dachte, Sie würden sich die Zeichnung vielleicht gern vorher ansehen. Geben Sie sie dann einfach Zainab oder Majdi.«
    Katya lächelte. »Vielen Dank, Adara.«
    Nachdenklich ging sie wieder zu den Tischen. Wenn Eva das Haus verlassen hatte, war sie also nicht in die Moschee gegangen, sonst hätte sie Abnutzungsspuren an beiden Knien gehabt. Sie hatte nicht Zuflucht bei Allah gesucht. Katya selbst hatte sich in einer Moschee nie richtig wohlgefühlt. Es war ein offizieller Ort des Gebets. Ihre eigene spirituelle Versenkung fand meist zu Hause auf dem Balkon statt, im kühlen Schatten hinter geschlossenen Sonnenschutzläden, wo sie schon früher immer gemeinsam mit ihrer Mutter vor dem Abendessen ihre Gebete verrichtet hatte.
    Aber aus welchem Grund würde eine Frau außerhalb des Hauses auf ein Knie sinken? Natürlich war es möglich, dass sie das Haus gar nicht verlassen hatte, sondern in einem Haushalt gelebt hatte, in dem sie verpflichtet war, stets einen Umhang zu tragen, weil sie männliche Gäste bediente, ihnen Essen servierte. Vor ihnen kniete, wenn sie ein Kaffeeservice auf einen niedrigen Tisch zu stellen hatte. Aber hätte sie sich dann nicht gebückt oder wäre in die Hocke gegangen? Auf ein Knie zu sinken brachte die schreckliche Gefahr mit sich, dass das andere Bein entblößt wurde, falls der Umhang verrutschte.
    Schließlich richtete Katya ihre Aufmerksamkeit auf Evas Neqab und Kopftuch. Das Tuch war schlicht und schwarz und aus Polyester, wie die meisten. Es hatte kein Etikett, aber auf einer Seite war der Stoff heller als auf der anderen, was vermuten ließ, dass es regelmäßig der Sonne ausgesetzt gewesen war. Es war noch nicht auf Fasern untersucht worden, daher inspizierte Katya es mit der Lupe. Auf der Innenseite fand sie etliche lange schwarze Haare, die wahrscheinlich von Eva stammten. Aber an derselben Stelle entdeckte sie auch zwei kürzere, hellere Haare. Katya schob sie rasch in einen Plastikbeutel und etikettierte ihn. Blonde Männerhaare, vermutete sie. Das war interessant. Wo konnte Eva einem blonden Mann begegnet sein? Und warum waren die Haare auf der Innenseite des Tuchs? Fast hätte sie zum Telefon gegriffen und Zainab angerufen, aber sie wusste, dass ihre Chefin

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