Totenverse (German Edition)
anderen syrischen Frauen bemerkt hatte. Bestimmt hätte sie niemals eine glabellare Anomalie geduldet. Nur Kamele durften Höcker haben. »Ich konnte diesen Wulst aufgrund des darunterliegenden Gewebes rekonstruieren, verstehen Sie?«, sagte Um-Karim.
»Ja, ich verstehe.« Katya sah, dass in der Skizze eine Ausbuchtung eingezeichnet war, die von der Seite betrachtet wahrscheinlich an das Profil eines Schimpansen erinnerte. »Was ist das da für ein Fleck?« In der Mitte der Stirn war ein kleiner Höcker eingezeichnet, knapp über den Augenbrauen.
Eine leichte Bewegung unter dem Neqab, etwa da, wo der Wangenknochen sein musste, verriet, dass die Frau mit einer Gesichtshälfte lächelte. »Das, meine Liebe, ist eine Zabiba.« Ein Fleck oder Höcker, der sich durch jahrelanges exzessives Beten durch das Berühren des Bodens mit der Stirn bildete. Katya kannte Menschen, die ihre Zabiba voller Stolz trugen.
»Könnte es nicht auch ein Muttermal sein?«, fragte Katya.
»Ja.« Um-Karims Augen wirkten gefährlich gereizt. »Aber ich glaube, es ist eine Zabiba. Sie ist nicht so ohne Weiteres weggebrannt, genau wie Hornhaut.« Sie betrachtete ihre Zeichnung prüfend.
»Hmm, ja.« Katya hätte am liebsten ihr Handy aus der Tasche gezaubert und Um-Karim das wirkliche Bild von Evas Gesicht gezeigt. Aber sie spürte, dass man sich diese Frau schnell zur Feindin machen konnte, und das wollte sie nicht.
»Sie können froh sein, dass Sie hier solche Computer rumstehen haben«, erklärte Um-Karim jetzt. »Ansonsten hätte ich Wochen gebraucht, um ihr Gesicht zu rekonstruieren, und ich bin immerhin Expertin.«
Katya schielte zu ihrer Tasche hinüber. Die Versuchung wurde fast unwiderstehlich. »Wie alt war die Frau?«
Um-Karim zögerte. »Die Rechtsmedizinerin und ich schätzen etwa vierundzwanzig.«
»War sie da nicht zu jung, um schon eine Zabiba zu haben?«
»Offensichtlich nicht.« Mit diesen Worten griff Um-Karim seelenruhig nach ihrer Tasche und ging, nicht ohne Katya noch ausdrücklich daran erinnert zu haben, dass sie die Zeichnung ihrer Vorgesetzten geben sollte, sobald diese aus ihrer Besprechung kam.
Katya wartete, bis sie zur Tür hinaus war, und ging dann schnurstracks zu ihrem Computer. Sie gab eine Suchanfrage in die Datenbank mit den Vermisstenmeldungen ein, besonderes Kennzeichen, ein Muttermal auf der Stirn, und das Ergebnis erschien so blitzschnell auf ihrem Monitor, dass sie nach Luft schnappte. Es gab nur eine einzige vermisste Person in Dschidda, die ein Muttermal im Gesicht hatte: Leila Nawar. Katyas Magen schlug einen Salto. Das Gesicht, das sie anschaute, sah genauso aus wie das Gesicht auf dem Handyfoto. In der Akte stand, dass Leila vor einer Woche verschwunden war. Ihr Bruder Abdulrahman Nawar, der eine Modeboutique in Dschidda betrieb, hatte sie als vermisst gemeldet. Leila selbst war Filmemacherin, die nach Angaben ihres Bruders freiberuflich für einen lokalen Nachrichtensender arbeitete. Also war sie doch keine Hausfrau gewesen.
Der erste Eindruck kann wirklich oft täuschen , dachte Katya mit einem seltsamen Anflug von Stolz. Aber warum sollte sie daraus irgendeine Genugtuung ziehen? Sie musste nur an ihre Beziehungen zu Othman und Nayir denken, um sich in diesem Punkt bestätigt zu sehen. Sie griff erneut zum Telefon und wählte Zainabs Nummer.
12
Am nächsten Morgen wurde Nayir vom Klingeln seines Handys geweckt. Die Amirs riefen an, um die Wüstenfahrt abzusagen. Es gab eine hastige Erklärung, zu viele Entschuldigungen. Fünf Minuten später stand er im Bad, starrte ins Waschbecken und dachte über seine Lage nach. Es tut uns leid – aber es ist einfach zu viel dazwischengekommen. Familienangelegenheiten – Sie verstehen . Nayir hatte nicht nachgefragt. Er war zu enttäuscht. Dabei hatte die Familie schon Unsummen für die Vorbereitungen ausgegeben. Sogar neue Fahrzeuge waren angeschafft worden – zwölf funkelnagelneue Land Rover, jeder einzelne mit genug Vorräten gefüllt, um ein ganzes Beduinencamp den restlichen Sommer zu verpflegen. Diese Verschwendung machte den Amirs natürlich nichts aus, aber ihm machte sie etwas aus. Er beschloss, dass er an diesem Morgen um Vergebung für die Sünden der Verschwendung beten würde.
Sein Boot knarrte unglücklich, als er auf den Steg trat. Am Rumpf blätterte die Farbe ab, und der Name Fatima war grau verblasst. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht Zeit für einen Namenswechsel war.
Als er auf den Parkplatz des Jachthafens
Weitere Kostenlose Bücher