Totenverse (German Edition)
köstlich. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war. Angestrengt bemüht, Small Talk zu machen, aß sie schnell hintereinander noch drei Donuts.
»Du Ärmste«, sagte Patty schließlich und sah Miriam an, als wäre sie ein halb verhungertes Waisenkind. »Wann hast du denn zuletzt was gegessen?« Ohne die Antwort abzuwarten, holte sie mehrere Teller aus dem Kühlschrank und stellte ein Reste-Buffet für Miriam zusammen, die sich sofort darüber hermachte.
»Miriam, ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten.« Patty war nicht mehr ganz so hysterisch wie am Telefon, aber ihre Beruhigungsversuche bewirkten bei Miriam genau das Gegenteil. »Wahrscheinlich ist er bloß von der Religionspolizei aufgegriffen worden. Die lassen ihn bestimmt bald wieder laufen.« Patty goss ihr eine Tasse Kaffee ein und stellte sie auf den Tisch. »Weißt du, so was erlebe ich andauernd«, sagte sie munter. Miriam hörte auf zu kauen. »Okay, nicht andauernd, aber es ist schon vorgekommen.«
»Was ist vorgekommen?«, fragte Miriam.
Patty kam mit einer Tasse Kaffee an den Tisch und setzte sich zu ihr. Ihre Miene sollte vermutlich abgeklärt wirken, aber sie sah nur omahaft und wunderlich aus. »Vor zwei Jahren wollten wir an unserem Hochzeitstag in einem schicken neuen Restaurant in der Stadt essen gehen. Ich musste ihn dazu überreden, weil Jacob sich kein schöneres Abendessen vorstellen kann, als irgendwas am Lagerfeuer zu grillen. Möglichst was, was er selbst erlegt hat.« Sie trank einen Schluck und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Offensichtlich wollte sie es spannend machen. »Er sollte also direkt von der Arbeit nach Hause kommen und mich abholen. Wir hatten für sieben Uhr einen Tisch reserviert, aber er kam nicht. Um acht musste ich in dem Restaurant anrufen und mich entschuldigen. Da hatte ich schon zigmal versucht, ihn im Büro und auf seinem Handy zu erreichen. Außerdem hatte ich ein halbes Dutzend Freunde und Bekannte und das Sicherheitspersonal hier in der Anlage alarmiert, aber keiner wusste, wo er war. In der Nacht kam er nicht nach Hause. Ich weiß also genau, wie du dich fühlst. Ich kenne diese Ungewissheit und die Angst, dass etwas passiert ist.«
»Was war denn mit Jacob?«, fragte Miriam.
»Ach! Dem ging’s gut. Er war von der Polizei angehalten worden, weil er eine rote Ampel überfahren hatte. Na ja, du kennst ja Jacob. Er hatte die Ampel nicht überfahren, was er dem Polizisten natürlich zu verklickern versuchte, der daraufhin wütend wurde. Ich glaube, Jacob hat ein bisschen die Beherrschung verloren. Jedenfalls haben sie ihn mitgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Er hat eine Nacht im Gefängnis gesessen, wegen eines Verkehrsverstoßes, ist das zu fassen?«
Miriam nickte und aß wahllos weiter. Sie hätte gern geglaubt, dass irgendwas in der Art auch der Grund für Erics Verschwinden war, aber irgendwie gelang ihr das nicht.
»Wie lange war er weg?«, erkundigte sie sich.
»Nur einen Tag«, sagte Patty. »Aber weißt du was? Ein paar Monate später hat uns einer, der schon rund zwanzig Jahre hier lebt, was zu dieser Ampel erzählt, an der sie Jacob erwischt haben. Stell dir vor: Die Polizei kann die Ampelschaltung steuern! Die warten tatsächlich da an der Ecke und schalten auf Rot, sobald ein Ausländer über die Kreuzung fährt. Ich meine, die haben es auf Amerikaner abgesehen.«
Danke, Patty , wollte Miriam sagen.
»Meine größte Angst«, sprach Patty weiter, »ist nicht, dass ihm was passiert, sondern dass … Also das ist jetzt wirklich sehr persönlich, und ich erzähl dir das nur, weil ich glaube, dass du mich verstehst.« Sie blickte Miriam an, und ihre blauen Augen glitzerten bedeutungsvoll. »Ich hab ständig Angst, dass Jacob eine zweite Frau mit nach Hause bringt.«
Miriam versteckte ihre Reaktion hinter einem Grinsen. »Müsste er dafür nicht Muslim sein?«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Patty, winkte mit einer Hand ab und stand auf. »Ich glaub ja nicht wirklich, dass das je passieren würde. Ich bin bloß mal wieder irrational.«
Miriams Appetit legte sich. Sie kaute weiter auf einem Stück Brot, damit Patty nicht misstrauisch wurde, aber die Worte lagen ihr auf der Zunge. Patty, er ist ein Mistkerl. Er betrügt dich schon seit Jahren. Verlass ihn doch . Patty schüttete ihren frischen Kaffee in die Spüle und schien dann erst zu merken, was sie getan hatte. Sie stieß ein nervöses Lachen aus. »Nanu, was habe ich denn da gemacht?«, sagte sie und schenkte
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