Totenverse (German Edition)
die Luft an und lehnte sich noch weiter nach draußen, um am Metallgitter der Treppe vorbei einen Blick auf den Müllhaufen zu werfen. Soweit sie das sagen konnte, sah alles wie immer aus. Gelbe Einkaufstüten aus Plastik, aus denen Essenreste, leere Dosen und Flaschen und Orangenschalen quollen.
Der Kühlschrank war leer. Die letzte Dose Favabohnen hatte sie zum Frühstück gegessen, und sie hütete sich, das entsalzte Meerwasser, das aus der Wasserleitung kam, zu trinken – manchmal hatte es die Farbe von Apfelsaft. Sie schlich zur Wohnungstür und lauschte lange, ein Ohr am Holz, hörte aber nur irgendwo Mütter mit ihren Kindern schimpfen und dann und wann das gedämpfte Dröhnen eines Autos.
Es fiel ihr immer schwerer, ihre Wut zu verdrängen. Ohne Eric wurde die Wohnung nahezu unerträglich. Sie hätten wirklich in die amerikanische Wohnanlage ziehen sollen, und im Augenblick kamen ihr die Einwände dagegen lächerlich vor. Die Wohnungen dort waren zu teuer (sie waren ja hergekommen, um Geld zu sparen). Die Anlage war ein Topziel der Terroristen – aber es hatte hier noch keinen Anschlag gegeben. Aber vor allem war sie nicht das »wahre« Saudi-Arabien. Sie war, sinnierte Miriam, ein Ort, an dem Eric sich wohlgefühlt hätte, aber Abdullah nicht. Leider war Abdullah noch immer mit Miriam verheiratet.
Inzwischen kam ihr die Begründung für ihren gesamten Aufenthalt hier in Dschidda lächerlich vor. So einen Job wie hier hätte er auch anderswo bekommen können, allerdings vielleicht nicht zu diesem Gehalt. Er konnte überall als Bodyguard arbeiten. Sie waren hier, weil er hier sein wollte, obwohl er vielleicht selbst nicht genau wusste, warum. Aber angesichts der vielen Einschränkungen, die sie auf sich genommen hatte, konnte er sie doch wohl nicht verlassen haben.
Sie nahm ihr Handy und rief ein Taxiunternehmen an. Sie und Eric hatten zwar vereinbart, kein Geld für Taxis auszugeben, aber fünfzehn Minuten später fühlte es sich teuflisch gut an, in ein klimatisiertes Auto zu steigen. Ich musste dich schließlich suchen! , würde sie als Erklärung anführen, falls er später meckern sollte. Oder vielleicht auch nur: Du warst ja nicht da. Und ich musste einkaufen . Aber sie fuhren nicht zu dem Lebensmittelladen. Der Fahrer kannte den Compound, den sie ihm nannte – Arabian Gates –, und eine halbe Stunde später näherten sie sich der Haupteinfahrt. Der rebellische Akt, in einem Taxi zu sitzen, tat ihr so gut, dass ihr Zorn abebbte.
Das Taxi rollte im Schritttempo weiter, und sie blickte auf die Straße. Die hinteren Fenster waren ringsum sehr dunkel getönt. Nicht von ungefähr warb das Taxiunternehmen damit, Fahrten für »anständige« Frauen anzubieten, mit dem Slogan: Unsere Fenster sind dunkler . Als sie durch die schmutzige Windschutzscheibe spähte, sah Miriam, dass sie dicht vor dem Tor zum Compound waren. Wie bei den anderen Wohnanlagen gab es auch hier Straßensperren, Explosionsschutzwände, Stacheldraht, Überwachungskameras auf beiden Seiten und bewaffnete Wachen, die vor dem Tor patrouillierten. Es sah aus wie die Zufahrt zu einem Hochsicherheitsgefängnis. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis sie passieren durften, und weitere fünfzehn Minuten, bis eine besorgt dreinblickende Patty erschien. Miriam bezahlte den Fahrer und folgte Patty zu ihrer Villa.
Gespräche mit Patty waren ihr schon immer unangenehm gewesen. Miriam gab Eric die Schuld daran. Er hatte ihr erzählt, dass Jacob notorisch fremdging. Sie und Eric waren noch ganz neu in Saudi-Arabien, und Eric hatte die Marxes gerade erst kennengelernt, als Jacob ihm gestand, dass er arabische Frauen bevorzugte, wenn möglich Jungfrauen, aber auch Prostituierte. Damals hatte das Eric ebenso abgestoßen wie sie, aber es hatte ihn nicht daran gehindert, sich in der Freizeit mit Jacob zu treffen. Miriam dagegen hatte sich außerstande gefühlt, Patty gegenüberzutreten.
Sie fand es selbst absurd, dass sie sich jetzt ausgerechnet an Patty wandte, um Informationen zu bekommen, und musste einen plötzlichen Ansturm von Schuldgefühlen unterdrücken. Miriam betrat die Küche und sah einen Teller mit frisch gebackenen Donuts auf dem Tisch. Es duftete nach warmem Backfett und Puderzucker. »Greif zu!«, sagte Patty ungezwungen. Miriam hätte sich am liebsten den ganzen Teller in den Mund gestopft. Während Patty herumhantierte, um Kaffee aufzusetzen, setzte sie sich vorsichtig an den Tisch und biss zaghaft in einen Donut. Er war
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