Totenverse (German Edition)
Männer sahen Faiza an, mit Mienen, die zwischen Unverständnis und Verwunderung schwankten. Einer von ihnen sagte: »Darf ich fragen, worum es geht?«
»Nein«, sagte Osama und winkte Faiza um die Theke herum zum rückwärtigen Teil des Ladens, wo eine große Doppeltür von Kleiderpuppen aufgehalten wurde. Eine trug ein braunes Lederteil, das aussah, als könnte man damit Falken fangen. Durch die Tür war ein riesiges Atelier zu sehen. Sie sahen Männer, aber keine Frauen.
Faiza beschwerte sich weder, noch trat sie den Rückzug an. Das war eines von den Dingen, die er an ihr mochte, diese unerschütterliche Entschlossenheit. Als sie in das Atelier gingen, sah er sich selbst plötzlich wie von fern, sah einen Ermittler, der seine Schutzbefohlene in einen Raum führt, nur dass diese Schutzbefohlene den Mut besaß, an der Tür stehen zu bleiben und ihren Neqab zu heben, ohne auch nur einen Blick in seine Richtung zu werfen und um seine Zustimmung zu bitten. Sie war bereit, ihnen gegenüberzutreten, während Osama am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. Er fand es furchtbar, Angehörigen eine schlimme Nachricht zu überbringen.
Einer von den Männern sah sie kommen und trat auf sie zu. Seine Bewegungen waren vorsichtig, und als er sprach, hatte er den forschen Tonfall eines Mannes, der es gewohnt ist, mit Dummköpfen umzugehen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie Abdulrahman Nawar?«
»Nein, ich bin sein Assistent. Wer sind Sie?«, fragte der Mann. Osama zeigte seine Dienstmarke, aber ehe er sich vorstellen konnte, fragte der Mann: »Worum geht es?«
»Um seine Schwester.«
Bestürzung malte sich auf das Gesicht des Mannes. »Oh«, sagte er. »Bitte kommen Sie.«
Der Raum war hell erleuchtet und kühl, und es lagen deutlich unterscheidbare Gerüche in der Luft: abgestandener Kaffee, Schweiß, der säuerliche Gestank von gefärbten Stoffen, die frisch von ihren Ballen abgewickelt wurden. Es gab große weiße Tische, auf denen Muster ausgelegt waren und wo Scheren und Nadelkissen geduldig auf ihren Einsatz warteten, und zwischen den Tischen standen kopflose Kleiderpuppen in trotzigen Posen. Hände in den Hüften. Arme wie zum Boxkampf erhoben. Männer standen herum und waren über Tische mit Stoffen gebeugt. Sie waren jung, noch keine dreißig. Einer saß auf einem Stuhl und wickelte Paillettenfäden auf. Der älteste unter ihnen – in dem Osama den Bruder des Opfers vermutete – hantierte an einer Kleiderpuppe herum, die einen Arm ausgestreckt hatte, sodass es von der Seite aussah, als würde sie ihn ohrfeigen. Alle Puppen trugen Reizwäsche.
»Abdulrahman.« Die Art, wie der Assistent den Namen sagte, erweckte bei Osama den Eindruck, der Mann ahne bereits, was los war, dass Leila tot war und dass sie gekommen waren, um die Nachricht zu überbringen. Er schaute zu Faiza hinüber, die anscheinend den gleichen Gedanken hatte, denn sie sah ihn mit einem stummen, beunruhigten Blick an.
Abdulrahman reagierte auf den seltsam intimen Tonfall, indem er augenblicklich seine Arbeit unterbrach und sich mit einem abweisenden Ausdruck im Gesicht umdrehte.
»Was ist?«, fragte er.
»Herr Nawar«, sagte Osama. »Ich bin Inspektor Osama Ibrahim, und das ist meine Mitarbeiterin Shanbari. Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«
Abdulrahman erstarrte neben der ohrfeigenden Kleiderpuppe. Sein »Ja« klang eher, als schnappte er nach Luft. Er wollte Osama und Faiza zu einem kleinen verglasten Büro auf der anderen Seite des Raumes führen, doch schon nach zwei Schritten strauchelte er, und sein Assistent und Osama sprangen vor, um ihn aufzufangen.
Er schlug die Hand des Assistenten beiseite. »Es geht schon«, knurrte er. »Was ist passiert?« Aber er wusste es bereits, das sah Osama seinem Gesicht an.
»Herr Nawar, vielleicht sollten Sie sich lieber einen Moment hinlegen«, schlug der Assistent vor.
Abdulrahman sah ihn erbost an. »Hol mir einen Schluck Wasser.« Dann ging er in sein Büro, setzte sich schwerfällig auf das plumpe gelbe Sofa dort und wurde prompt kalkweiß im Gesicht.
Sein Assistent kam mit einem Glas Wasser, und Abdulrahman nahm es mit zitternden Händen. Die Mitarbeiter draußen hatten ihre Tätigkeiten unterbrochen und versammelten sich wenige Meter vor der Bürotür. Osama wollte sie nicht wegschicken, aber zum Glück ging der Assistent zu ihnen hinaus. »Alle mal herhören«, sagte er. »Ihr habt Pause. Geht, geht.«
Sie zerstreuten sich gehorsam, nur ein Mann blieb zurück und
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