Totenverse (German Edition)
sein, sondern auch absolut brutal, denn er hat selbst dann noch nicht von ihr abgelassen, als sie längst am Ende war. Er war blindwütig. Die Frage ist, warum?«
»Könnte sie unter Drogen gestanden haben?«, fragte Nayir.
»Wir warten auf die Laborergebnisse der Blutuntersuchung, aber ja, möglich wär’s. Unter Drogen wird sie wahrscheinlich nicht so große Schmerzen empfunden haben. Vielleicht war sie sogar bewusstlos. Aber wenn dem so war, dann haben wir es mit einem bösartigen Psychopathen zu tun, weil er weiter auf sie losgegangen ist, ohne provoziert zu werden. Anders ausgedrückt: Sie hat sich nicht gewehrt. Der Täter hatte bloß …«
»Freude am Töten.«
Sie nickte. »Aber er hat ihr nicht bloß einmal siedendes Öl ins Gesicht geschüttet, er hat ihr ganzes Gesicht und die Hände damit verunstaltet.«
»Vielleicht war ihm klar geworden, wie übel er sie zugerichtet hatte, und fand es daher unvermeidlich, sie zu töten. Vielleicht wollte er sie mit dem siedenden Öl unkenntlich machen, um ihre Identifizierung zu erschweren«, sagte Nayir, und ihn schauderte bei der Vorstellung.
»Denkbar.«
»Aber wie soll das Ganze überhaupt möglich gewesen sein?«, fragte er. »So wie du den Ablauf der Tat beschrieben hast, muss sie in einer Küche passiert sein. Falls Leila in ihrer Küche war –«
»In der Küche ihres Bruders«, warf Katya ein. »Sie lebte im Haus ihres Bruders.«
»Egal«, sagte Nayir. »Wie soll ihr jemand das alles im Haus ihres Bruders angetan haben? Sie müsste den Täter gekannt haben, sonst hätte sie ihn wohl kaum reingelassen. Obwohl … es könnte auch jemand ins Haus eingedrungen sein, ein Einbrecher.«
»Oder ein Freund des Bruders«, sagte Katya. »Gleich nach ihrem Verschwinden war die Polizei im Haus des Bruders und hat ihn vernommen. Sie haben auch die Nachbarn befragt, und keiner hatte irgendwas Außergewöhnliches gehört – keine Schreie, keinen Lärm. Und nachdem wir Leilas Leiche identifiziert hatten, wurde das ganze Haus mit Einwilligung des Bruders kriminaltechnisch untersucht. Es war sauber. Da ist sie nicht gestorben.«
Nayir nickte. »Dann stellt sich die Frage, welche anderen Küchen hat sie aufgesucht?«
Katya lachte bitter auf. »Frauen sind ständig in irgendwelchen Küchen«, sagte sie. »Nach Aussage ihres Bruders hatte sie nicht viele Freundinnen. Bloß eine Cousine, die aber zur fraglichen Zeit verreist war.«
Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sich seine Nervosität durch das Gespräch über den Fall gelegt hatte. Aber er hörte den düsteren Unterton in ihrer Stimme bei den Worten: Frauen sind ständig in irgendwelchen Küchen .
»Außerdem hatten die Ermittler auch schon die Idee«, fuhr sie fort. »Sie haben das Haus der Cousine untersuchen lassen, obwohl sie mit ihrer Familie verreist war. Und ich glaube, sie überprüfen die Küche von Nachbarn des Bruders, einer Familie, die nebenan wohnt.«
»Vielleicht jemand, den sie durch ihre Arbeit kennengelernt hat?«, schlug er vor, bemüht, bei der Sache zu bleiben.
»Die Polizei hat mit den Leuten vom Sender gesprochen. Die Frau, die Leila engagiert hat, behauptet, sie habe Leila schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Leila war freie Mitarbeiterin. Das lief alles über Telefon und Computer. Sie wurde nicht für aktuelle Beiträge gebraucht, bloß für Füllmaterial, das sie dann per Mail an den Sender geschickt hat. Wenn einer einen Auftrag für sie hatte, wurde sie per E-Mail oder telefonisch verständigt. Leila war nie im Sender.«
»Und wie wurde sie engagiert?«
»Sie hat sich auf eine Annonce gemeldet. Die Frau, die sie engagiert hat, war bei Leila zu Hause – also im Haus des Bruders –, um mit ihr zu reden. Ich glaube, sie wollte sich auch überzeugen, ob Leila technisch vernünftig ausgerüstet war für den Job.«
»Klingt einleuchtend«, sagte Nayir. Er fragte sich kurz, ob Katya wohl so einen Job annehmen könnte, einen, bei dem sie von zu Hause aus arbeiten würde.
»Aber ich glaube nicht unbedingt, dass Leila besonders sittsam war«, sagte Katya. »Ich meine, ich hab den Eindruck, sie war gern mit ihrer Videokamera unterwegs. Ich hab dir ja schon erzählt, dass sie einmal angegriffen wurde, wie ihr Bruder sagt.«
»Stimmt«, sagte er.
Den Rest der Strecke schwiegen sie und stellten enttäuscht fest, dass die Gegend, in die sie nun kamen, ziemlich heruntergekommen war. Müllsäcke lagen auf dem Bürgersteig. Zwei Männer, die an einem verrosteten Toyota lehnten,
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