Totenverse (German Edition)
hochgeschlagen und gaben sein Gesicht frei, für ihn wohl ungefähr dasselbe wie ein hochgeschlagener Neqab, dachte sie. Ein paar schwarze Haarlocken ringelten sich darunter hervor. Er war frisch rasiert, aber sein Gesicht hatte etwas ungemein Raues, wahrscheinlich, weil er zu häufig der Sonne ausgesetzt war. Es war an und für sich kein attraktives Gesicht, aber es war dunkel und markant und hatte etwas unbestreitbar Männliches. Er roch nach Sand und Motoröl und nach irgendwas Frischem und Warmem, wie gebackenes Brot. Sofort war die jungmädchenhafte Unbeschwertheit verschwunden, die sie im Labor mit Majdi verspürte. In Nayirs Nähe empfand sie ein tieferes Gefühl, eine Art seelische Erschütterung.
»Wie geht’s dir?«, fragte er schließlich.
»Gut.«
Er blickte kurz in ihre Richtung, sah ihr aber nicht direkt in die Augen. Sie hatte am Morgen beschlossen, ihm nichts mehr zu verheimlichen. Sie würde freiheraus reden, denn wenn das mit ihnen funktionieren sollte, dann musste es aus den richtigen Gründen funktionieren. Und so erzählte sie ihm alles von dem Fall, wie sie den Bluetooth-Neqab und die Videoaufnahmen von Faruha gefunden hatte, die sich über die religiöse Führung lustig machte, sie erzählte ihm all die Dinge, die sie bislang unterschlagen hatte, weil sie Leilas Unschicklichkeit hätten enthüllen können oder weil sie zwangsläufig offenbart hätten, wie eng sie selbst mit Männern wie Majdi und Osama zu tun hatte. Sie erzählte ihm alles, was ihr einfiel; sie beschrieb Majdi als einen jugendlichen zerstreuten Wissenschaftler mit dicker Brille und zerzaustem Haar, um Nayir hoffentlich zu vermitteln, dass Majdi kein bisschen sexy war, merkte aber mittendrin, dass sie mit offensichtlicher Zuneigung über Majdi sprach, und sie verstummte.
Nayir schien nachzudenken. Sie wartete gespannt, dachte, bitte, bitte sag was. Irgendwas . Sie wusste, was er dachte: Du arbeitest allein mit einem Mann zusammen? Sie blickte nervös aus dem Fenster, betrachtete die Geschäfte, die vorbeiglitten, ein Hyper-Panda-Supermarkt, ein paar Tankstellen, schmutzig im Sonnenlicht. Auf der Straße waren zwei unverschleierte Frauen, sie plauderten und lachten, und das Kopftuch der einen rutschte immer weiter nach hinten. Nayir schien es nicht zu bemerken, er behielt den Wagen vor ihnen im Auge. Katya fühlte sich, als sauste sie auf einer breiten, endlosen Schnellstraße dahin und hätte plötzlich die Handbremse gezogen. Sie rutschte, schlitterte an Autos vorbei und drehte sich wie wild. Es gab Verrückte, die so etwas tatsächlich machten. Das letzte Opfer eines solchen Übermuts war in der Rechtsmedizin gelandet. Nach der Kollision mit einem Sattelschlepper hatte das Gesicht der Frau ausgesehen wie lila verfärbtes, rohes Fleisch.
»Dann hätte sie also praktisch jeder töten können«, sagte Nayir endlich. Erste Erleichterung sprudelte in Katya auf. »Wenn sie diesen Bluetooth-Neqab getragen hat, dann könnte sie irgendwo auf der Straße einen Mann kennengelernt haben …« Er deutete mit einer resignierten Geste auf den Bürgersteig.
»Wir haben nicht viele Spuren«, räumte Katya ein. »Aber ich glaube, Leila wurde nicht vorsätzlich ermordet; ich glaube, es war ein Verbrechen aus Leidenschaft. Da hat jemand im Affekt gehandelt. Womöglich jemand, der eine längere Beziehung mit ihr hatte. Sie hatte ein gebrochenes Schienbein. Aber laut Aussage ihres Bruders hat sie diese Verletzung erlitten, als sie auf offener Straße angegriffen wurde. Also ist das kein eindeutiger Beweis. Aber sie hatte eine kaputte Beziehung zu ihrem Exmann.«
»Hat man den verhaftet?«
»Er ist unauffindbar«, sagte sie. »Aber sie haben seinen Bruder in Verwahrung. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Mörder durch irgendwas provoziert wurde, was Leila unmittelbar vor ihrem Tod getan hat. Wie wir wissen, hat sie Filmmaterial für einen Lokalsender aufgenommen und eine private Kunstsammlung fotografiert. Die Arbeit für den Sender bringt uns wahrscheinlich nicht weiter, ihre Aufnahmen waren langweilig – Hintergrundmaterial. Ich werde mich noch mal damit befassen, aber diesen Kunstsammler finde ich interessanter.«
»Er sammelt alte Koranschriften«, sagte Nayir.
»Na ja, das war unsere Vermutung.«
Sie schwiegen eine Weile, während der Rover vor einem Kreisverkehr im Stau stand. Dann ging es im Schritttempo auf der äußeren Spur weiter. Katya entdeckte den Grund für den Stau in der Mitte des Kreisverkehrs: eine
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