Totenverse (German Edition)
Aber die Frau sagte: »Nein, nein, kommen Sie herein.« Sie war Amerikanerin, keine Frage. Sie hatte eine andere Vorstellung von Raum. Kommen Sie herein , bedeutete, kommen Sie ganz herein. Fühlen Sie sich wie zu Hause, gehen Sie in jedes Zimmer, folgen Sie mir in die Küche, nehmen Sie Platz, alle beide , Mann und Frau. Setzen wir uns alle an denselben Tisch.
Sie war offensichtlich wegen irgendwas aufgewühlt, und Nayir vermutete, dass es nichts mit ihnen zu tun hatte. In ihren Augen, auf die er einen unauffälligen Blick warf, sah er etwas Größeres, eine tiefer greifende Beunruhigung. Diese Augen, die von einem Blau waren, wie er es noch nie gesehen hatte, zumindest nicht bei einem Menschen, verwirrten ihn für einen Moment. Sie waren groß und betrachteten ihn mit einer erstaunlichen Offenheit, wie er erschrocken feststellte.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Katya die Stirn runzelte.
Unsicher folgte er den Frauen in einen Raum, der als Salon der Frauen hätte dienen können, wenn das Mobiliar nicht bloß aus einem kleinen schäbigen Sofa mit Beistelltisch bestanden hätte. Es gab keinerlei Wandschmuck, und das Zimmer, das keine Fenster hatte, wurde nur von einer trüben Lampe auf dem Tisch erhellt. Auf dem Boden lag ein Buch, und als die Amerikanerin darüberstieg, stieß sie sich den Fuß am Tisch und fluchte erneut. Frustriert nahm sie ihren Neqab ab und drehte sich zu Nayir und Katya um. »Vorsicht, stoßen Sie sich nicht am Tisch.«
Nayir schaute rasch weg, aber er hatte ihr Gesicht bereits gesehen. Es war zart und klar. Ihr Profil hatte die weich gerundeten Linien einer gemeißelten Schriftzeile in einer Marmorwand. Von ihrer blassen Haut hoben sich die Lippen leuchtend rot ab.
Katya starrte ihn an, und er tat, was er konnte, um ihrem Blick auszuweichen.
Sie gelangten in eine kleine Küche. Die Frau forderte sie auf, an einem in die Ecke gequetschten Tisch Platz zu nehmen, und sie taten es, nur um ihr nicht im Weg zu stehen, weil es sonst zu eng gewesen wäre. Die Frau öffnete die Schranktür, kniete sich hin und begann, nach irgendetwas zu kramen.
Katya lüftete ihren Neqab, sodass Nayir nun noch weniger Möglichkeiten hatte, seinen Blick gefahrlos irgendwo ruhen zu lassen. Er fixierte den leeren Stuhl, bis ihm der Gedanke kam, Katya könnte denken, er starrte das Gesäß der Frau an, das gleich dahinter zu sehen war. Also richtete er den Blick auf Katyas Hände – und sah ihn: den Verlobungsring, der noch immer an ihrem Finger steckte. Erinnerungen an Othman stiegen gespenstergleich in ihm auf, die vielen Male, die er sich die beiden zusammen vorgestellt hatte. Anscheinend hatte Nayirs Rückkehr in Katyas Leben nichts an ihren Gefühlen bezüglich der gescheiterten Verlobung geändert. Der glitzernde Diamant war für ihn wie ein Nadelstich ins Auge.
»Frag sie, ob sie allein zu Hause ist«, sagte Katya.
Nayir zwang sich, zu übersetzen. Die Amerikanerin drehte sich zu ihnen um. »Ja«, antwortete sie. »Ich bin allein.« Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Frage sie beleidigt hatte. Sie stellte einen Karton auf die Küchentheke und zog einen Ordner mit der Aufschrift »Wohnung« heraus. Sie reichte ihn Nayir.
»Das ist unser Mietvertrag, glaube ich. Er ist auf Arabisch«, sagte sie. »Ich kann ihn nicht lesen.«
Nayir nahm den Ordner. »Wohnen Sie allein hier?«, fragte er.
»Nein, mit meinem Mann …« Sie schwieg kurz. »Er kann Arabisch lesen.«
Er überflog die Papiere und stellte fest, dass sie recht hatte: Der Vermieter hieß Nabih. Offenbar wohnte er in Al-Aziziya. »Vielen Dank«, sagte er. »Ich glaube, das hilft uns weiter.«
»Sie sagten, Sie sind von der Polizei?«, fragte sie.
»Ja.« Er nickte Richtung Katya. »Sie arbeitet für die Polizei.«
»Aha.« Die Frau verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Theke, kläglich bemüht, entspannt zu wirken. »Darf ich fragen, worum es geht? Sie sagten, eine junge Frau ist ermordet worden.«
»Was sagt sie?«, fragte Katya.
»Sie will mehr über Leila wissen.« Er wandte sich der Amerikanerin zu und erzählte ihr, was er wusste. »Haben Sie den Namen schon mal gehört – Leila Nawar?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat im Auftrag Ihres Vermieters Fotos gemacht«, erklärte Nayir. »Wir möchten bloß mit ihm darüber reden.«
»Ich wusste nicht, dass es in diesem Land Polizistinnen gibt«, sagte sie.
»Sie ist eigentlich … ich weiß nicht, wie das heißt. Sie arbeitet mit Beweisen. Sie
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