Totenverse (German Edition)
in Gewahrsam behalten würden, bis sie den Ehemann gefunden haben.«
»Osama nicht. Der nimmt nicht so schnell Leute fest.«
Nayir zeigte ein verräterisches Mienenspiel, das sie schon einmal bei ihm gesehen hatte, nämlich als er dahinterkam, dass die junge, unschuldige und zu diesem Zeitpunkt bereits tote Nouf insgeheim geplant hatte, nach Amerika abzuhauen. »Es wäre ziemlich weit hergeholt«, sagte er bedächtig, »irgendeinen dürftigen Zusammenhang zwischen Miriams vermisstem Ehemann und Leila Nawar herzustellen. Welche Anhaltspunkte gibt es dafür? Ein gemeinsamer Freund? Wahrscheinlich ist der Vermieter nicht mal sein Freund. Wahrscheinlich hat er ihn nur einmal gesehen. Wenn du deine Ermittler auf sie hetzt, stecken die sie einfach ins Gefängnis.«
Sie spürte ihren Zorn aufwallen, aber sie zügelte sich.
Die Anstrengung, die sie das kostete, machte sie einen Augenblick sprachlos.
»Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Ich will ihr keine Angst einjagen. Oder sie in Schwierigkeiten bringen. Sie war hilfsbereit, und ich bin ihr dankbar. Und offen gestanden, ich weiß nicht, was Osama unternehmen würde. Vielleicht interessiert es ihn auch gar nicht. Aber du hast es ja selbst gesagt: Das mit dem vermissten Ehemann ist schon ein bisschen seltsam.«
»Es könnte tausend Gründe für sein Verschwinden geben«, sagte er. »Vielleicht ist er auf und davon mit einer anderen Frau. Vielleicht hat ihn die Religionspolizei in Gewahrsam. Meinst du nicht, du solltest das überprüfen, ehe du irgendwas sagst?«
Es wäre zu schwierig gewesen, darauf zu antworten, also nickte sie bloß und schwieg.
19
Kaum war die Polizei gegangen, fegte Miriam durch die Wohnung, durchwühlte Schubladen und schleppte alte Kartons aus dem Schrank im Gästezimmer. ( Gästezimmer! , dachte sie. Was haben wir denn gedacht, wer hier bei uns Urlaub machen würde? ) Irgendwo musste es eine englische Ausfertigung des Vertrages geben. Sie kannte diese Wohnung in- und auswendig. In den vergangenen sechs Monaten hatte sie mehr Zeit zwischen diesen Wänden verbracht als in ihrem letzten Haus, in dem sie immerhin zwei Jahre gewohnt hatten, und sie wusste, dass es nur drei Stellen gab, wo sie Unterlagen aufbewahrten: Vorratsschrank in der Küche, Kleiderschrank im Gästezimmer und Erics »Schreibtisch«.
Es war kein richtiger Schreibtisch, bloß eine an die Wand im Gästezimmer geschraubte Holzplatte, aber irgendwie landeten seine Papiere stets hier. Einmal hatte sie nachmittags einen Putzanfall bekommen, alles säuberlich gestapelt und Überflüssiges in einen Karton gepackt. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen dabei gehabt. Sie hatte seinen Schreibtisch vorher noch nie aufgeräumt – Eric mochte ja manchmal ein wenig unordentlich sein, aber dank seiner Militärzeit war er immer bestens organisiert gewesen – bis sie hierhergezogen waren.
Als er merkte, dass sie seinen Schreibtisch aufgeräumt hatte, reagierte er leicht panisch und wollte genau wissen, wo seine Gehaltsabrechnungen und die Kontoauszüge zuvor gelegen hatten. Hatte sie die chronologische Ordnung durcheinandergebracht? Fehlte was? Wo hatte sie die arabischen Dokumente hingelegt? Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht, jetzt jedoch kam ihr sein Verhalten verdächtig vor.
Nach der spontanen Aufräumaktion damals hatte sie den Schreibtisch nicht mehr angetastet, der jetzt wieder so unordentlich war wie eh und je. Da lagen Stapel mit Notizen, die Eric sich für die Arbeit gemacht hatte, und sie überflog sie kurz, merkte aber gleich, dass sie nutzlos waren, bloß technisches Kauderwelsch, das ebenso gut auch Arabisch hätte sein können. Schließlich fiel ihr Blick auf eine Aktenmappe, die auf dem Boden stand. Miriam hob sie auf den Schreibtisch, stellte fest, dass sie abgeschlossen war, und hebelte sie mit dem Brieföffner auf. Darin befanden sich weitere Notizen, ein aktueller Bankauszug und ein Dokument in arabischer Sprache.
Sie überflog das Dokument, ein sinnloser Reflex. Aber auf halber Höhe der Seite blieb ihr Blick an einem einzelnen Wort haften. Sie erkannte es bloß, weil Eric einmal eine CD von Um-Kalthoum mitgebracht hatte, deren Titel auf Englisch und Arabisch aufgedruckt war: Alf Leila Wa Leila – Tausendundeine Nacht. Offenbar war das eines der populärsten Lieder im gesamten Mittleren Osten – klingelnde Glöckchen, der fremdartige Grammofonklang einer Frauenstimme, ein fünfzig Minuten langes Epos, das sich anhörte, als wäre
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