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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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aus derselben Handschrift stammten, wenngleich er sie bislang nur oberflächlich miteinander verglichen hatte. Diese Schriften hatte er auf einer kuwaitischen Webseite gefunden. Offenbar waren sie zur Versteigerung angeboten worden.
    Katya hatte Nayir und Majdi einander vorgestellt und war dann unverzüglich zu einer Besprechung mit ihrem Chef gegangen. Nayir wusste nicht recht, was er von Majdi halten sollte. Er war, wie Katya ihn beschrieben hatte, ein junger Computerfreak, aber während sie ihn liebenswert fand, fühlte Nayir sich in seiner Anwesenheit unwohl. Der junge Mann sprach kaum, war vollkommen auf seinen Computer fixiert. Nayir machte sich rasch an die Arbeit. Er sollte mithelfen abzuklären, ob die Fotos aus Leilas Zimmer mit denen von dem Auktionshaus übereinstimmten.
    »Wie läuft’s«, fragte Majdi, ohne auch nur den Blick vom Monitor abzuwenden.
    »Bestens«, antwortete Nayir. Eine erste Durchsicht der beiden Stapel ergab, dass Majdi richtig lag: Drei der Handschriften aus dem Internet entsprachen fast hundertprozentig den Fotos, die Leila gemacht hatte. Die Wasser- und Tintenflecke waren allesamt an den gleichen Stellen.
    »Wann wurden die hier zur Versteigerung angeboten?«, fragte Nayir und zeigte auf den zweiten Stapel.
    »Vor zwei Jahren«, erklärte Majdi. »Steht zumindest auf der Webseite.«
    »Wer war der Käufer?«
    »Weiß ich nicht. Bis jetzt hab ich in dem Auktionshaus noch keinen erreicht.«
    Nayir widmete sich wieder den Papieren und nahm sich den Stapel aus Leilas Zimmer vor. Das Lesen ging mühelos, da es sich ja um abfotografierte Seiten einer offenbar sehr alten Koranabschrift handelte. Er las die vertrauten Verse möglichst langsam und konzentriert, konnte jedoch nicht verhindern, dass er mit den Gedanken immer wieder zu dem Problem um Miriam abschweifte.
    Katya hatte recht – es war sehr merkwürdig, dass Miriams Mann vermisst wurde und der Vermieter offiziell nicht existierte. Wenn er richtig drüber nachdachte, klang der Name Wahhab Nabih sogar wie ein Pseudonym. Gut möglich, dass nichts davon mit Leilas Tod zu tun hatte, aber alles zusammengenommen war verdächtig. Und dennoch hielt er es noch immer für keine gute Idee, die Polizei von Miriams Situation zu unterrichten und eine verängstigte Ausländerin in eine polizeiliche Ermittlung zu zerren. Sie sprach nicht mal Arabisch, und schon das allein erfüllte ihn mit unsäglichem Mitleid für sie.
    Er zwang sich erneut, aufmerksam zu lesen, doch gleich darauf schlug er sich schon wieder einen neuen Pfad durch das Dickicht von Fragen: Warum war Leila beauftragt worden, diese Manuskripte zu fotografieren? Sie waren offensichtlich sehr alt und zweifellos erhaltenswert, aber die Fotos selbst waren recht schlampig aufgenommen, an den Rändern unscharf und ohne einen mittig zentrierten Bildausschnitt. Und warum waren sie in ihrem Zimmer versteckt gewesen?
    »Fallen Ihnen irgendwelche Unterschiede zwischen den alten Texten und dem modernen Koran auf?«, fragte Majdi.
    Nayir löste den Blick von den Seiten und überlegte. »Nein«, sagte er dann.
    Majdi wandte sich wieder seinem Computer zu. Während Nayir sich erneut über die Texte beugte, wurde ihm klar, wie unerhört Majdis Frage im Grunde war. Der Koran war heute so wie vor eintausendvierhundert Jahren. Genauso. Nicht ein einziges diakritisches Zeichen war verändert worden. Der Koran sagte: Das Wort deines Herrn ist in Wahrheit und Gerechtigkeit vollendet worden. Keiner vermag Seine Worte zu ändern . Das hieß, dass die Worte auf den Seiten Allahs Worte waren, so wie sie dem Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, offenbart worden waren.
    Nayir blätterte um und las weiter. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, dass es Auszüge aus dem Koran waren, und war daher nicht davon ausgegangen, dass er irgendwelche Fehler finden würde. Schlecht kopierte Texte waren vernichtet worden, hieß es, daher erschien es ihm ziemlich unwahrscheinlich, dass Dokumente, die der Öffentlichkeit schon so lange zugänglich waren, Fehler enthalten könnten.
    Ihm war aufgefallen, dass diakritische Zeichen zur Markierung von Vokalen fehlten. In seiner modernen gedruckten Form enthielt der Koran jede einzelne Vokalmarkierung, was das Wortverständnis erleichterte. Für jemanden wie ihn, der den Koran gut kannte, war es zwar kein Problem, einen Text auch ohne diese Zeichen zu lesen. Aber jetzt fragte er sich, ob er auch wirklich sorgfältig genug las.
    Etwa nach der Hälfte der Seite blieb er an

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