Totenverse (German Edition)
Korans.«
Majdi warf Katya einen unsicheren Blick zu, ehe er weitersprach: »Wie man sich vorstellen kann, kam dieser Gedanke nicht besonders gut an. Ich weiß nicht, wie der derzeitige Stand der Dinge ist. Ich erzähle das nur, weil ich es für möglich halte, dass unsere Seiten hier aus dem Fund in Sanaa stammen. Die Schriften, die wir in Leilas Zimmer gefunden haben, sind beinahe identisch mit denen, die ich von der Webseite eines Auktionshauses runtergeladen hab, und auf der Webseite steht, dass sie ursprünglich aus dem Jemen stammen. Sie könnten also zu den bekannten Sanaa-Fragmenten gehören.«
Katya schüttelte fassungslos den Kopf.
»Offensichtlich hat Leila sie versteckt«, fuhr Majdi fort. »Woher sie auch stammen, hier in diesem Land kämen sie jedenfalls nicht so gut an, wenn sie Fehler enthielten – unabhängig von den Gründen für diese Fehler.«
Die anderen beiden schwiegen angespannt.
»Ich persönlich finde ja, dass sich da eigentlich keiner drüber aufregen sollte«, sagte Majdi nach einem Moment. »Natürlich hat es im Laufe der Jahrhunderte Variationen des Heiligen Buches gegeben, sonst hätte Uthman ja gar nichts zu verbrennen gehabt. Und wenn sich in die Abschriften des Korans Fehler eingeschlichen haben, dann sind es menschliche Fehler.«
»Der Koran sagt, dass Allah Fehler korrigiert«, widersprach Nayir und zitierte dann: » Wenn Wir einen Vers aufheben oder der Vergessenheit anheimfallen lassen, so bringen Wir einen besseren als ihn oder einen gleichwertigen hervor. Weißt du denn nicht, dass Allah Macht über alle Dinge hat? «
»Mag ja sein«, sagte Majdi. Er sah aus, als müsste er sich bremsen, um nicht die Augen zu verdrehen, »aber die ältere Handschrift könnte eine authentischere Version sein. Man weiß es nicht. Sollte Sie das als jemand, dem der Koran am Herzen liegt, nicht wenigstens interessieren? Möchten Sie denn nicht genauer wissen, was Allah wirklich gesagt hat?«
»Das hier hat Allah gesagt«, entgegnete Nayir und zeigte auf den gedruckten Koran.
Hastig schaltete sich Katya ein. »Aber Majdi, bloß weil die Handschrift alt ist, heißt das noch lange nicht, dass es darin nicht von Fehlern wimmelt. Und das, was Sie sagen, wirft die Möglichkeit auf, dass der ganze Text voller menschlicher Fehler steckt. Wie will man da wissen, welche Teile authentisch sind?«
»Nicht zu vergessen, dass der Koran ursprünglich auf Aramäisch geschrieben wurde«, setzte Majdi noch eins drauf. »Er wurde also obendrein noch übersetzt.«
Katya biss sich auf die Lippe und blickte unwirsch drein.
»Meiner Meinung nach sollte das alles eigentlich gar keine so große Bedeutung haben«, fuhr Majdi ungerührt fort. »Wirklich wichtig am Koran ist doch, dass es ihn gibt, oder? Und die Vorstellung, dass es ihn nur in einer bestimmten Form geben sollte, impliziert auch, dass es nur eine richtige Art gibt, ihn zu lesen. Eine derart strenge Interpretation reduziert das Heilige Buch, nimmt ihm seine Kraft und Dynamik, sodass es nicht mehr mit den Veränderungen der Menschheit Schritt halten kann und zum Ornament verkommt.«
Nayir starrte ihn verständnislos an. Er konnte nicht fassen, was der junge Mann da gerade von sich gegeben hatte. Die Unterstellung, der Koran sei eine Art menschliches Projekt, war schon lasterhaft genug, aber dann auch noch zu behaupten, dass einer der schönsten Aspekte des Korans – dass er nämlich mubin war, klar und rein, von Anbeginn an unverändert – im Grunde zu seinem Nachteil war, das ging denn doch zu weit.
»Das Ende vom Lied ist, dass wir nichts über diese Handschriften wissen«, schaltete sich Katya ein. »Sie könnten gefälscht sein, aber solange wir nicht herausgefunden haben, wer ihr Besitzer ist und warum sie in Leilas Zimmer versteckt waren, sollten wir das Herumspekulieren bleiben lassen.«
21
Osama versuchte, möglichst entspannt zu wirken. Polizeichef Hassan Riad gegenüberzusitzen war das berufliche Äquivalent dazu, mit einem iqal geschlagen zu werden: Es hinterließ Spuren, aber keine entstellenden Narben. Riad neigte zu gestrengem Schweigen, von dem er plump zu aufgesetzter Bevormundung wechselte. Der Mann hatte sieben Kinder und zwei Frauen, aber anscheinend keine Ahnung, wie man mit Menschen umging. Osama hatte ihn schon mehrfach im Ramadan zu Hause besucht, und da war er genauso plump gewesen. An einem normalen Tag hätte Osama vielleicht die Ruhe bewahren können, ganz gleich, wie unangenehm Riad auch war, aber heute
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