Totenverse (German Edition)
unsicher, wie viel sie Sabria von ihren eigenen Sorgen erzählen sollte. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie in den vergangenen Monaten hier aufgetaucht war, vor Einsamkeit verzweifelt und verängstigt oder deprimiert, aber unfähig, es einzugestehen. Sabria war so herzensgut und gastfreundlich, und Miriam hätte sich furchtbar gern an ihrer Schulter ausgeweint, aber die Grundregeln der Höflichkeit und ein mütterliches Gefühl gegenüber Sabria hatten sie davon abgehalten.
»Und wie geht’s dir?«, erkundigte sich Sabria. »Wie war die Rückkehr?«
Die Frage wirkte wie der Stich einer Nadel in einen Wasserballon. Miriam atmete aus, ermahnte sich, dass sie hier die Ältere war, aber die Flut war schon nicht mehr aufzuhalten. Sie spürte die ersten zögerlichen Tropfen, dann strömten die Tränen, und sie erzählte, was alles passiert war, von Erics Verschwinden und vom Besuch der Polizei und schließlich von Miriams gescheitertem Versuch, die Adresse des Vermieters zu lesen. Sabria hörte mit fassungsloser, bestürzter Miene zu.
»Hör mal, da gibt es alle möglichen Erklärungen«, sagte sie schließlich und nahm Miriams Hand.
»Ich weiß«, sagte Miriam. »Ich weiß. Er könnte bei der Religionspolizei sein. Irgendwas Blödes.«
Sabria nickte. »Aber du musst unbedingt das Konsulat anrufen.«
»Hab ich schon«, sagte Miriam. »Mehrmals. Am Anfang waren sie durchaus hilfsbereit, aber ich merke, dass sie mich langsam für irgend so eine Durchgedrehte halten, die wegen nichts in Panik gerät. Trotzdem versuch ich es heute Nachmittag noch mal.«
Sabria nickte und griff nach dem Mietvertrag, den Miriam auf den Tisch gelegt hatte. »Die Information ist veraltet. Herr Nabih lebt jetzt in Dubai und hat für seine Immobilie einen Verwalter eingestellt.« Sie stand auf. »Ich hol dir seine Adresse. Bin gleich wieder da.«
»Sabria –«
Sabria verharrte an der Tür und warf Miriam einen beruhigenden Blick zu. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich schweige wie ein Grab.«
Sobald sie aus der Tür war, spürte Miriam, wie die Beruhigung in Wellen über sie hinwegschwappte, durchsetzt mit einzelnen Spritzern aus Schuldgefühlen und Beschämung. Vielleicht hatten die vom Konsulat ja recht, und sie machte sich grundlos Sorgen, dachte sie, um sogleich wieder überzeugt zu sein, dass ihr Gefühl sie nicht trog: Irgendwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Sie trank einen Schluck Tee.
Kurz darauf kam Sabria zurück. »Das hier ist die Adresse des Verwalters«, sagte sie. »Mein Vater sagt, dass er da wohnt. Der Mann heißt Apollo Mabus.«
Miriam erstarrte, die Tasse auf halbem Weg zum Mund. Es hätte sie nicht schockieren sollen, sie hätte damit rechnen müssen, weil vieles bereits darauf hingedeutet hatte, aber irgendwie konnte sie kaum fassen, wie unverfroren Mabus sie im Flugzeug angelogen hatte, mit seinem amerikanischen Akzent, mit seiner Behauptung, er wäre beruflich unterwegs, und mit der beiläufigen Art, in der er sich nach ihr und Eric erkundigt hatte, als würde er ihn nicht kennen.
Sie dankte Sabria, und als sie wieder nach oben ging, kämpfte sie gegen ein Gefühl der Panik an. Erst als sie wieder in ihrer Wohnung war, fiel ihr das seltsame Dokument mit dem Namen »Leila« darin wieder ein. Sie hatte es die ganze Zeit in ihrer Handtasche gehabt. Es war nicht zu spät, noch einmal nach unten zu Sabria zu gehen und sie zu bitten, es zu übersetzen, aber jetzt hatte Miriam Angst, es überhaupt jemandem zu zeigen.
20
Nayir tat so, als wäre er ein Gelehrter, während er am Labortisch saß, auf dem masahif lagen. Es handelte sich um zwei Blattsammlungen, die den Heiligen Koran enthielten. Er war ziemlich sicher, dass es nicht der ganze Koran war – dafür waren die Sammlungen zu dünn –, aber auch ein unvollständiger Koran war heilig. Er hatte Waschungen verrichtet, ehe er ihn berührte, weil er sich seit dem Morgen nicht mehr gereinigt hatte. Der Labortechniker Majdi hatte ihn taktlos beobachtet, während er sich am Spülstein in der Ecke wusch.
Majdi lieferte einige Erklärungen zu den beiden Sammlungen. Die erste bestand aus etwa fünfzig fotografierten Seiten, die sie versteckt unter einer Kommodenschublade in Leilas Schlafzimmer gefunden hatten. Vermutlich zeigten die Fotos Herrn Nabihs Privatsammlung von Koranschriften. Der andere Stapel stammte aus dem Internet. Er bestand aus lediglich zehn Blättern, aber sie waren den Seiten aus dem ersten Stapel so ähnlich, dass sie laut Majdi vermutlich
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