Totenverse (German Edition)
einem Wort hängen. Zuerst dachte er, er hätte sich verlesen, weil der Fehler so offensichtlich war. Er schüttelte den Kopf, ging zurück an den Anfang des Verses und las ihn erneut. Es war tatsächlich ein Fehler.
Ihm drehte sich der Kopf. »Haben Sie eine Koranausgabe hier?«, fragte er Majdi.
Majdi ging aus dem Raum und kehrte kurz darauf mit einem abgegriffenen Exemplar des Heiligen Buches zurück. Er gab es Nayir.
Nayir schlug die entsprechende Sure auf, um den wahren Koran mit dem fehlerhaften Text zu vergleichen, obwohl er sich dabei schon fast lächerlich vorkam. Er legte das Buch neben das Blatt und verglich die beiden Textstellen mit der Gründlichkeit eines Sherlock Holmes.
»Hier ist ein Fehler«, sagte er schließlich gepresst. Majdi kam zu ihm, und Nayir zeigte ihm den Satz.
Majdi wirkte nicht sonderlich überrascht. »Hab ich mir gedacht«, sagte er.
»Wieso?«
»Tja, Leila wird die Seiten ja nicht grundlos versteckt haben.«
»Na ja«, sagte Nayir. »Aber wo hatte sie die her? Und warum sind sie abgeändert worden?«
»Vielleicht wurden sie nicht bewusst geändert«, sagte Majdi. »Wahrscheinlich ist es bloß eine fehlerhafte Abschrift. Ich meine, vor tausend Jahren gab’s noch kein Tipp-Ex.«
»Dann hätten sie verbrannt werden müssen«, wandte Nayir ein.
»Verbrannt?«
Nayir rief sich in Erinnerung, dass nicht jeder auf dem neusten Stand war, was die Fatwas anging. Trotzdem, eigentlich sollte das jeder wissen, fand er. »Der Hadith sagt, als Uthman die erste verbindliche und vollständige Version des Korans schreiben ließ, verbrannte er alle anderen, unvollständigen Exemplare, um zu verhindern, dass sie entweiht wurden.«
Majdi schien unbeeindruckt.
»Er ließ sie auch begraben«, fuhr Nayir fort. »Aber ich glaube, wenn ein Exemplar so einen Fehler enthält wie hier – vor allem einen, der zu Fehldeutungen führen kann –, gilt unter Scheichs die Regelung, dass es verbrannt werden muss.«
Majdi zählte zu den Menschen, die mit dem ganzen Körper denken. Jetzt hatte er die Augen zusammengekniffen und trommelte sich mit den Fingern aufs Kinn.
Hinter ihnen kam Katya herein. Sie sah leicht erschöpft aus, wahrscheinlich hatte die Besprechung mit ihrem Chef sie angestrengt. Majdi grüßte sie und erzählte ihr dann von der Unstimmigkeit im Text.
»Also hat ein Kopist beim Abschreiben einen Fehler gemacht«, sagte Katya. »Was heißt das?«
»Tja, Nayir und ich sprachen gerade darüber, dass Koranexemplare, die Fehler enthalten, normalerweise verbrannt werden müssen.«
»Was hier nicht geschehen ist«, sagte sie.
»Oder aber …« Majdi seufzte und warf Nayir einen nervösen Seitenblick zu. »Es war gar kein Fehler.«
»Was soll das heißen?«, fragte Nayir, in dem ein dunkler Verdacht aufkeimte. »Es muss ein Fehler sein, der bei der Abschrift passiert ist.« Er wollte noch mehr sagen, aber die beiden wussten ja, dass der veröffentlichte Koran vor ihnen auf dem Tisch der Koran war, unverändert, seit die Worte Allahs dem Propheten Mohammed offenbart wurden. Alles andere musste einfach menschlicher Irrtum sein.
»Haben Sie schon mal von den Sanaa-Fragmenten gehört?«, fragte Majdi.
Katya und Nayir schüttelten den Kopf.
»Vor etwa dreißig Jahren stieß ein Archäologe im Jemen auf eine Handschriftensammlung im Dach der Großen Moschee von Sanaa. Der Archäologe, den Namen hab ich vergessen, erkannte, dass die Handschriften sehr alt waren, und die Leute von der Antikenbehörde holten für die Restaurierung ein paar deutsche Wissenschaftler ins Land. Es handelte sich um zigtausend Pergament- und Papierfragmente, und man brauchte rund zwanzig Jahre, um alles zu sortieren, zu reinigen und zu konservieren.
Jedenfalls behaupten die Wissenschaftler, dass diese Fragmente aus authentischen frühen Handschriften des Korans stammen. Es sind sogar die ältesten Handschriften, die je gefunden wurden. Aber es gibt Abweichungen zwischen diesen alten Funden und dem modernen Text von heute. In den alten Fragmenten waren die Verse anders angeordnet. Manche der Handschriften waren Palimpseste und offensichtlich überarbeitet worden.«
»Jemand hat den Koran überarbeitet?«, fragte Katya sichtlich verblüfft.
»Tja, die Wissenschaftler sind auf jeden Fall ziemlich sicher, dass es sich bei diesen Handschriften um frühere und somit authentischere Versionen des Korans handelt als unsere jetzige.«
Katya sah zu Nayir hinüber, der prompt sagte: »Es gibt keine ›Versionen‹ des
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