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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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gaben, dann würde er verdammt noch mal machen, was er wollte.
    »Also gut«, sagte er zu Katya, »kommen Sie mit.«
    »Jetzt?«
    »Zu früh für Sie?«
    Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, und sie folgte ihm zur Tür hinaus.
    Katya bekam ihre Atmung mühsam unter Kontrolle. Nachdem sie sich monatelang verzweifelt bemüht hatte zu beweisen, was sie auf dem Kasten hatte, bot man ihr endlich die Gelegenheit dazu. Nicht harte Anstrengung und Entschlossenheit hatten sie an diesen Punkt gebracht, sondern bloß ein glücklicher Zufall, aber sie würde nehmen, was sie kriegen konnte.
    Als sie zum Auto kamen, hatte sie hinten einsteigen wollen, doch Osama hatte sie nach vorne gewinkt und gesagt, es sei zwar kein Streifenwagen, aber er habe sich in langen Berufsjahren daran gewöhnt, dass nur Kriminelle hinten säßen. Sie wusste, dass die anderen Frauen, die zu Vernehmungen mitgenommen wurden, im Fond Platz nahmen, sie hatte sie in der Garage beim Einsteigen beobachtet, aber wenn sie jetzt darüber nachdachte, hatte sie noch nie eine von ihnen zusammen mit Osama gesehen. Sie hätte ihn gern gefragt, wen er normalerweise zu solchen Vernehmungen mitnahm, aber sie hatte Angst, den Bann zu brechen.
    Sie ließ ihren Neqab oben, weil sie das Gefühl hatte, dass er damit klarkam, und weil sie keine Lust hatte, ihn herunterzuziehen. Es gefiel ihr, draußen in der Welt unterwegs zu sein und alles sehen zu können. Der Ehering an ihrem Finger war da schon beunruhigender. Er schien am Rande ihres Gesichtsfeldes bedrohlich zu funkeln und zu einem unangenehmen Gespräch einzuladen.
    Sie schielte zu Osama hinüber, der tief in Gedanken versunken war. Da die Frauen im Labor dermaßen kindisch und schamlos von ihm schwärmten, hatte das bei Katya als Gegenreaktion eine gewisse Antipathie ausgelöst. Jetzt jedoch war sie ihm gegenüber wohlmeinender und konnte sich eingestehen, dass er ein gut gebauter und gepflegter Mann war, unbefangen, ein bisschen reserviert, aber nicht arrogant. Er hatte gefühlvolle braune Augen, wie junge Mädchen sie liebten, aber Katya vermutete, dass er darüber nicht so glücklich war. An der Schläfe hatte er eine kleine Narbe, die er nicht zu verbergen versuchte. Er hatte kurze Haare, seine rasierten Wangen hatten einen Bartschatten, und er trug kein Kopftuch. Er sah aus wie der typische, leicht westlich angehauchte Berufstätige – sie konnte ihn sich nicht in einem weißen Gewand vorstellen –, und sie schätzte, dass er nicht sonderlich religiös war und eher zu der Sorte Männer gehörte, die nur während des Ramadan beteten und Glaube und Frömmigkeit für leicht rückständige Begriffe hielten, die bei manchen Menschen zwar gefährliche Formen annehmen konnten, aber letztlich doch irrelevant waren.
    Die Stille im Auto wurde nur gelegentlich von einem Knistern des Funkgeräts durchbrochen und zerrte allmählich an ihren Nerven. Sie wusste, dass es besser war, nichts zu sagen. Sonst dachte er vielleicht, sie wäre aufgeregt, und überlegte es sich wieder anders. Oder er meinte am Ende, sie wollte mit ihm flirten, wenn sie einen Gesprächsversuch unternahm. Eigentlich sah es nicht so aus, aber man konnte ja nie wissen. Ein Mann musste nicht strenggläubig sein, um gewisse Vorstellungen davon zu haben, wie Frauen sich verhalten sollten. Sie beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und den Mund zu halten, stur geradeaus zu blicken und die Hände so zu platzieren, dass er sie nicht sehen konnte.
    »Ist Ihnen auf den DVDs sonst noch was aufgefallen?«, fragte er.
    Erleichtert atmete sie auf. »Eigentlich nicht. Das meiste war Hintergrundbildmaterial, wahrscheinlich für den Nachrichtensender.«
    Er nickte und verstummte. Sie schaute zu ihm hinüber und sah, dass seine Augen traurig blickten, trotz des kalten Schweigens. Sie hatte den Impuls, ihm zu erzählen, was sie am Vortag zusammen mit Nayir herausgefunden hatte, aber sie bremste sich. Das hier war eindeutig nicht der passende Augenblick dafür. Erstens wäre Nayir entrüstet, und zweitens könnte Osama sie in seiner derzeitigen Stimmung für anmaßend halten und vielleicht sogar zu dem Schluss kommen, sie habe den Ermittlungen geschadet. Immerhin hatte sie ohne seine Erlaubnis etwas getan, was eigentlich seine Aufgabe war.
    Die Adresse lag im Norden der Stadt. Es war ein Neubauviertel, kantig und streng, ein unaufhörlich weiter wachsendes Schachbrett mit Häusern im Einheitslook. Alle waren weiß verputzt und zweigeschossig, hatten hölzerne

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