Totenverse (German Edition)
müssen, wenn Faruha vom Tod ihrer Freundin erfuhr, andererseits ärgerte es ihn maßlos, dass er ihr selbst keine Fragen stellen durfte und eine Frau mitgebracht hatte, die von professionellen Zeugenvernehmungen vielleicht keinen Schimmer hatte.
Irgendwann kam eine Frau, von der er annahm, dass es sich um eine ältere Schwester des Jungen handelte, und brachte Osama ein Glas Orangensaft. Sie stellte den Saft auf den Sofatisch und streckte die Hand nach dem Jungen aus. Der Kleine stand auf, ohne die Augen von dem Spiel zu nehmen, und folgte ihr aus dem Zimmer.
In der nun eingekehrten Stille wanderte Osamas Aufmerksamkeit zurück zu den CDs im Regal. Es war ein Fehler gewesen, sich die Titel anzusehen. Viele waren von Musikern, die Nuha gern hörte. Er hatte den ganzen Morgen versucht, nicht an sie zu denken, aber jetzt spürte er, wie sie sich in seinen Kopf schlich, gespenstisch leise, umgeben von einer neuen Rätselhaftigkeit.
Es war niederschmetternd, wie stolz er immer auf sie und ihre Ehe gewesen war. Er bewunderte sie dafür, dass sie für die Zeitung arbeitete, dass sie schreiben konnte und so gut mit Menschen zurechtkam. Aber in den vergangenen zwei Jahren hatte sie ihn jedes Mal, wenn sie sich liebten, in dem Glauben belassen, dass sie ein zweites Kind wollte, dass die Vereinigung ihrer Körper auf dieses Ziel hinstrebte. Schlimmer noch, als das Kind nicht kam, hatte sie ihm eingeredet, der weibliche Körper sei ein Mysterium. Ja, sie sei schon einmal schwanger geworden und habe einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, aber bei den meisten Frauen laufe nun mal nicht alles nach Plan, und manchmal wirke sich gerade die Belastung durch Stress auf die Fruchtbarkeit aus. Sie hatten gemeinsam überlegt, wie sie vielleicht in ihrem Beruf kürzertreten könnte, und während des ersten Jahres nach Muhannads Geburt hatte sie nur Teilzeit gearbeitet. Er hatte sie nicht weiter bedrängt, da er natürlich nicht mehr tun konnte, als er bereits tat. Nie und nimmer wäre er darauf gekommen, dass sie verhütete.
Er fragte sich, ob Rafiq Bescheid wusste. Hatte Mona es ihm gesagt? Ehe Rafiq angeschossen wurde, hatten sie sich häufig zu viert getroffen. Er und Rafiq hatten über die Arbeit gesprochen, während die Frauen unter vier Augen über ihre Ehen geredet hatten.
Als die ersten Vorwürfe gegen Rafiq laut wurden, hatte Osama Nuha alles erzählt, was er dachte, weil er davon ausgegangen war, sie sei einer der ganz wenigen Menschen, die ihn verstanden. Doch anstatt Mitgefühl für Rafiq zu äußern, hatte sie seltsam unterkühlt reagiert. Als er nachfragte, gestand sie ihm, dass sie Rafiq für grausam hielt. Mona hatte ihr nämlich von den ganzen Regeln erzählt, die er für sie aufgestellt hatte. Er wollte, dass Mona Abaya und Hijab trug, wenn sie mit bestimmten Freunden zusammenkamen, bei anderen genügten ihm Freizeithose und kein Kopftuch. Er verlangte sogar, dass sie ihre Kleidung etikettierte, damit sie wusste, welche Sachen sie wann zu tragen hatte. Er machte ihr Vorschriften, wann sie sich schminken durfte (nur bei ganz engen Freunden, niemals im Kreis seiner Familie), wie sie sich zu kleiden hatte, wenn sie nach Ägypten reisten (immer Jeans oder andere Hosen, niemals lange Röcke). Sie durfte Kurse besuchen – sie entschied sich für Yoga, Nähen und einen Computerkurs –, aber Rafiq musste erst jeden absegnen, und sie durfte nicht zu ihren Kursen, wenn er zu Hause war, weil es ja sein könnte, dass er sie für irgendwas brauchte.
Nuha erzählte ihm all diese Dinge mit mühsam beherrschtem Widerwillen – Osama zuliebe –, aber am Ende sagte sie, wie dankbar sie dafür sei, dass ihr Leben nicht so kontrolliert wurde und dass ihr Ehemann sie so respektierte, wie sie war. Ihm wäre niemals in den Sinn gekommen, Nuha so zu behandeln.
Angesichts von Rafiqs Tragödie war Osama leicht ungehalten darüber gewesen, dass Nuha dessen Ehe kritisierte. Im Grunde fand er Rafiqs Verhalten nicht verwunderlich. Er neigte nun mal dazu, Leute herumzukommandieren. Und Osama hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass Mona ein besonderer Fall war, eine von diesen hilflosen Kindfrauen, die nie richtig erwachsen wurden. Rafiq hatte sich anfänglich zu ihr hingezogen gefühlt, doch im Laufe der Jahre war sie ihm mehr und mehr auf die Nerven gegangen, sodass er das Vakuum ihrer nicht vorhandenen Willenskraft garantiert nur allzu gern ausgefüllt hatte. Außerdem waren viele Männer in Bezug auf ihre Ehefrauen
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