Totenverse (German Edition)
dass sie schon das Schlimmste befürchtet, die schrecklichsten Möglichkeiten durchgespielt hatte, um sich auf einen Moment wie diesen vorzubereiten. Als Faruha wieder aufblickte, waren ihre Augen klar und stechend. »Wie ist es passiert?«
»Ihr wurde das Genick gebrochen. Sie war auf der Stelle tot.«
»Das glaube ich nicht.«
Katya wurde von einer starken Beklommenheit erfasst. »Sie ist auch geschlagen worden«, sagte sie, zu mehr war sie nicht bereit. Sie würde ihr auf keinen Fall von dem iqal erzählen, den Messerwunden und dem siedenden Öl. »Haben Sie vielleicht irgendeine Idee, wer Leila so etwas hätte antun wollen?«
Die Plötzlichkeit der Frage schien Faruha zu überrumpeln. »Da fallen mir zig Leute ein«, sagte sie, »aber ich kenne ihre Namen nicht.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Katya.
»Sie wissen, dass Leila Filme gemacht hat?«, sagte Faruha.
Katya erklärte, was sie über Leilas Arbeit wusste und wie sie Faruha gefunden hatte.
»Dann kennen Sie nur die entschärfte Version«, sagte Faruha mit einem grimmigen Zug um den Mund.
Katya griff in ihre Handtasche und wurde leicht panisch, als sie merkte, dass sie vergessen hatte, Stift und Notizblock mitzubringen. Ganz unten in der Tasche fand sie einen abgebrochenen Bleistift und eine alte Kassenquittung aus dem Supermarkt. Ha, sehr professionell , dachte sie. Faruha beäugte ihre Funde und grinste.
»Neu in dem Job?«, erkundigte sie sich.
»Ich habe meinen Block im Büro vergessen«, antwortete Katya ruhig, obwohl sie spürte, wie sie rot wurde. Ohne großes Aufheben zu machen, fischte Faruha einen Stift und einen kleinen Notizblock aus der Schreibtischschublade und warf Katya beides zu.
»Danke«, sagte Katya erleichtert.
Faruha sprach weiter. »Leila war unerschrocken«, sagte sie. »Sie war hochintelligent und kreativ und hatte vor nichts Angst. Aber sie hat eine Menge Leute stinksauer gemacht. Sie hat für diesen Sender gearbeitet, um ihre wahre Leidenschaft zu finanzieren, ein Dokumentarprojekt, an dem sie gearbeitet hat. Sie nannte es Stadt der Schleier .«
»Worum ging es dabei?«, fragte Katya.
Faruha lachte schnaubend. »Na ja, hauptsächlich um Dschidda. Es fing ziemlich zahm an. Leila hatte zufällig ein paar Sachen vor die Linse gekriegt und wollte sie zusammenschneiden – Frauen mit Neqab beim Spaghettiessen, ein paar von diesen Spinnern, die auf den Schnellstraßen absichtlich ihre Wagen ins Schleudern bringen. Aber dann verlor sie das Interesse. Sie wollte was Größeres. Vor etwa einem Jahr lernte sie eine Frau kennen, die behauptete, Prostituierte zu sein. Leila hat ein Interview mit ihr gemacht. Es lief nicht gut, glaube ich, aber von da an hatte sie ihr Thema gefunden. Sie ging in Bordelle und Frauenhäuser und interviewte Frauen.«
»Wusste ihr Bruder davon?«
Faruha runzelte die Stirn. »Soll das ein Witz sein? Außer Ra’id und mir war keiner eingeweiht.«
»Sie hat sich also verstärkt für Frauenrechte interessiert«, sagte Katya.
»Ja schon, aber sie fing an, sich auf jedes Thema zu stürzen, das irgendwie Konfliktstoff lieferte. Misshandelte Hausmädchen. Sexsklavinnen. Männer, die zwanzig Ehefrauen haben. Und glauben Sie mir, sie hatte eine Gabe, solche Dinge aufzustöbern. Sie hat sogar den Auftritt einer Drag-Queen-Show in einer Privatvilla irgendwo außerhalb der Stadt gefilmt. Keine Ahnung, wie sie das gedeichselt hat, aber sie war dabei.«
»Das klingt, als hätten sexuelle Tabubrüche sie interessiert«, sagte Katya. »Hat sie auch in Fällen politischer oder religiöser Korruption recherchiert?«
»Nein, eigentlich nicht, aber ich glaube, sie hat angefangen …« Faruha verstummte. »Ach, ich weiß nicht. Faruha trank einen Schluck aus einer Flasche Evian auf ihrem Schreibtisch. »Wie dem auch sei, sie hat weitergemacht, obwohl sie so behandelt wurde.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Katya.
»Na ja, sie hat ja nicht immer nur privat gefilmt. Manchmal ist sie einfach in der Stadt herumspaziert. Man stelle sich vor, eine junge Frau, die allein durch die Gegend zieht und ihre Videokamera auf alles draufhält, was irgendwie peinlich wirkt. Sie wurde zweimal angegriffen. Einmal hat ein Kerl ihre Kamera ins Meer geschmissen und sie zusammengeschlagen. Er hat ihr ein Bein gebrochen. Geschnappt wurde er, glaub ich, nicht, aber ich weiß, dass sie Anzeige erstattet hat. Die Religionspolizei war ständig hinter ihr her, aber meistens ist sie denen irgendwie entwischt. Wie sie das geschafft hat,
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