Totenverse (German Edition)
Kontrollfreaks. Das hieß doch überhaupt nicht, dass er obendrein ein Lügner war, ein Dieb, ein Erpresser und Schläger.
So legte er die Geschichte eine Weile für sich zurecht, bis er merkte, dass ihm das, was Nuha gesagt hatte, nicht mehr aus dem Kopf ging. Schließlich ergriff er die Gelegenheit, Rafiq zu fragen: »Warum schreibst du Mona ständig vor, was sie tun und lassen soll?«
Rafiq hatte ihn mit einem seltsamen Blick gemustert, den er damals nicht einordnen konnte, aber jetzt mit erschreckender Klarheit verstand. Er besagte: Meine Frau erzählt euch unsere Geheimnisse, aber deine tut das umgekehrt auch. »Wenn du deine Frau nicht im Auge behältst«, hatte Rafiq eindringlich gesagt, »hintergeht sie dich irgendwann, auf die eine oder andere Weise.«
Osama starrte unglücklich auf das Glas Orangensaft und hasste die Erkenntnis, dass Rafiq recht behalten hatte.
Katya war gerade dabei, sich zu verabschieden, als sie Schritte auf dem Flur hörte. Als sie an der Tür vorbeikamen, ertönte ein lauter Schlag, und eine Männerstimme sagte: »Bleib ja in deinem Zimmer, du Zwerg, und komm erst raus, wenn ich weg bin.«
Katya sah Faruha an.
»Mein Bruder«, sagte sie leise. Der Ausdruck in ihrem Gesicht zerriss Katya das Herz. Eine wütende Miene hätte sie vielleicht noch ertragen können, aber sie sah bloß Verletztheit, wund und frisch, als hätte sie im Laufe der Jahre keinerlei innere Hornhaut gegen diesen Bruder entwickelt.
Katya riss die Tür auf und trat in den Flur.
Der Mann wirbelte wütend herum. »Ich hab gesagt, du sollst in deinem –« Er sah Katya und erstarrte. In seinem Gesicht stand das pure Entsetzen, als wäre er in ein gruseliges Märchen geraten, in dem ein Dschinn sich nachts ins Haus schleicht und die hässliche Schwester gegen eine junge Prinzessin eintauscht, eine wahre Schönheit, nur um dann deine Finger in Zehen und umgekehrt zu verwandeln und dich so zu verzaubern, dass du für den Rest deines Lebens nur noch blökst wie ein Schaf.
Er fand rasch die Fassung wieder. »Bedecke dein Gesicht, Weib«, knurrte er.
Katya wich zurück. Wie gern hätte sie jetzt eine Dienstmarke gehabt, um sie diesem mageren, jämmerlichen Kerl unter die Nase zu halten. Aber immerhin hatte sie Osama, der den Kopf aus der Tür des Männersalons schob, seine eigene Dienstmarke zückte und Katya zurief: »Kollegin Hijazi, wenn Sie so weit fertig sind, seien Sie mir doch bitte bei der Vernehmung dieses Herrn behilflich.«
Katya nickte höflich und sah mit Genugtuung, wie der Mann sich zwischen ihnen hin und her drehte wie ein Fuchs auf der Schnellstraße zwischen zwei heranrasenden Lastwagen. Osama winkte ihn mit drohendem Blick in den majlis , und der Mann gehorchte widerstrebend.
Faruha saß wieder am Computer und klickte träge mit ihrer Maus. »Ist das alles?«, fragte sie über die Schulter. »Ich hab nämlich noch zu tun.«
Katya wollte sagen: Du hockst tagaus, tagein in diesem Zimmer. Deine Eltern sperren dich hier ein, und dein Bruder bedroht dich, wenn du bloß mal die Tür aufmachst. Sehnst du dich denn nicht danach, hier rauszukommen? Stattdessen schrieb sie ihre Handynummer auf einen Zettel und legte ihn auf den Schreibtisch.
»Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch irgendwas einfällt, was uns weiterhelfen könnte.«
Faruha nahm den Zettel zwischen zwei Finger und sah Katya über die Schulter an. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie ihren Mörder gefunden haben.«
Wieder im Auto, mit Leilas DVDs schwer auf ihrem Schoß, musste Katya den Drang unterdrücken, Osama dafür zu danken, dass er in den Flur gekommen war und sie, ohne mit der Wimper zu zucken, als gleichwertige Partnerin behandelt hatte. Das Gefühl war lächerlich stark, schwoll in ihrer Kehle an und machte sie beinahe trunken. Und je mehr sie es zurückdrängte, desto stärker wurde eine andere Empfindung in ihr, ein Gefühl stürmischer Zuneigung, warm und wohltuend.
Als sie in den majlis gekommen war, ging der Bruder gerade wieder, aber Osama hatte, nachdem er ihn zuerst gehörig eingeschüchtert hatte, von dem Mann erfahren, dass er Automechaniker war, nebenan mit seiner Frau wohnte, die das zweite Kind erwartete, und die Auffassung vertrat, dass seine Eltern einen Riesenfehler begangen hatten, weil sie seine Schwester nicht zur Adoption freigegeben hatten, als es noch möglich war.
»Ich hab ihm gesagt, er passt in unser Täterprofil«, sagte Osama boshaft.
Er ist verheiratet , musste Katya sich in Erinnerung
Weitere Kostenlose Bücher