Totenverse (German Edition)
bis direkt vor den Eingang. »Bringen Sie Majdi die DVDs. Oder besser noch, fangen Sie selbst an, sich die anzusehen. Majdi hat im Augenblick alle Hände voll zu tun. Aber vorher, haben Sie die Adresse dieser Amerikanerin?«
Sie suchte in ihrer Handtasche herum, fand den Zettel und reichte ihn Osama.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, sagte er und klappte ihren Notizblock zu, der auf seinem Oberschenkel gelegen hatte. »Kann ich mir den ausleihen?«
»Gerne«, sagte sie. »Ich hab noch einen im Schreibtisch.« Dann wurde sie rot, weil sich das so anhörte, als ginge sie davon aus, dass er sie noch mal zu einer Vernehmung mitnehmen würde.
Osama nickte zerstreut und fuhr davon.
22
Die zweite Adresse von Herrn Nabih, die Miriam Walker ihnen gegeben hatte, erwies sich als nutzlos. Katya verbrachte den halben Vormittag an ihrem Computer, bis sie feststellte, dass die Adresse zu einem Postamt in Abu Dhabi gehörte. Als sie dort schließlich jemanden an der Strippe hatte, erfuhr sie, dass auf den Namen Nabih kein Postfach eingerichtet worden war. Sie war in einer Sackgasse gelandet.
Den Rest des Tages widmete sie Leilas DVDs. Zwar harrten noch andere Dinge der Erledigung, aber die DVDs waren einfach unwiderstehlich.
Als sie die erste ins Laufwerk legte, erwartete sie fast, dass der Mörder auf dem Monitor erscheinen und ein grausiges Geständnis ablegen würde, doch stattdessen blickte sie lediglich in die Damenabteilung eines Warenhauses.
Die Kamera war auf einen kreisrunden Kleiderständer gerichtet, an dem Blusen hingen. Der Ständer schien sich zu bewegen, aber das war schwer zu sagen, weil Leila das Ganze aus einem weiteren Kleiderständer heraus gefilmt hatte. Zumindest wirkte es so, weil irgendwas die linke Seite des Bildes verdeckte, möglicherweise der Ärmel einer Bluse. Auf der anderen Seite des Ganges inspizierte eine Frau die Blusen an dem Ständer. Ihr Neqab war hochgeschlagen, und Katya konnte ihr Profil sehen. Sie schien sehr jung zu sein. Plötzlich schrie die Frau auf und wich zurück. Ein Wachmann kam angelaufen, und im selben Moment sprang ein Mann aus der Mitte des Kleiderständers hervor. Er rannte genau in dem Augenblick nach links davon, als der Wachmann von rechts ins Bild kam. Und Leila setzte ihm blitzartig nach, stürmte aus ihrem Versteck und sprintete den Gang hinunter. Das Bild spielte für einen Moment verrückt, dann wurde es wieder ruhig und zeigte den Mann, wie er bäuchlings auf dem Boden lag. Hinter der Kamera flüsterte Leilas Stimme: »Verdammt!« Zwei Frauen standen über den Übeltäter gebeugt, der offenbar über ihre Kinderwagen gefallen war.
Die DVD war voll von solchen Szenen. In einer war ein Angehöriger der Religionspolizei zu sehen, wie er eine Frau die Straße hinunter verfolgte und hinter ihr herschrie, es sei sündhaft, in der Öffentlichkeit einen Hund auszuführen. »Hunde sind Wege zur Unzucht!«, brüllte er. »Sie sind wie Schmuck oder Make-up. Tand aus der Zeit der Unwissenheit!« Katya verdrehte die Augen. Der Mann holte die Frau ein. Zuerst hielt er sie am Arm fest, aber sie schlug mit ihrer Handtasche auf ihn ein, und er besann sich auf das Wesentliche: Er schnappte sich das Hündchen, riss es von der Leine los und rannte mit ihm davon. Der Hund bellte wie verrückt. Die Frau schrie.
Katya hätte sich eigentlich Notizen machen sollen, aber sie konnte den Blick nicht vom Bildschirm reißen. Sie sah sich die ganze DVD an, verbrachte die Mittagspause am Schreibtisch und ignorierte ihr Handy. Es gab noch einige professionell wirkende Sequenzen, bei denen Leila, wahrscheinlich für den Fernsehsender, alte Gebäude und Neubauprojekte und Veranstaltungen zur Stadtverschönerung gefilmt hatte, so zum Beispiel Grundschulkinder beim Bäumepflanzen. Derlei Passagen ließ sie schnell vorlaufen. Für einen großen Sender in Dubai hatte Leila einen Sonderbericht über Pfadfinder gedreht, die während der Hadsch als Betreuer fungierten. Aber ihr Hauptinteresse war offensichtlich, Widerwärtigkeiten und Konflikte in ihrer Lieblingsstadt aufzuzeigen, und genau das war auch der Inhalt der nächsten zwei DVDs.
Jede Sequenz hatte in der unteren linken Ecke eine Uhrzeit- und Datumsangabe, und bislang waren alle in chronologischer Reihenfolge, wobei die ersten vor etwa anderthalb Jahren gedreht worden waren. Faruha hatte gesagt, dass Leila nahezu täglich losgezogen war, und den Datumsangaben nach hatte sie jeden dritten oder vierten Tag irgendetwas Interessantes
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